Hans-Werner Kroesingers Somalia-Doku-Drama: Wo das Chaos herrscht
Hans-Werner Kroesinger widmet sein neues Dokudrama dem gescheiterten Staat Somalia.
Zu vorgerückter Stunde legt uns ein dynamischer Jungunternehmer seine „unkonventionelle Sicht auf die Entsorgungsproblematik“ dar. Schwermetalle, kontaminiertes Erdreich, Verbrennungsrückstände, radioaktive Abfälle: Man könne das, verspricht der adrette Anzugträger (Lajos Talamonti), unter Umgehung der Basler Konvention auch wesentlich kostengünstiger loswerden. „Unsere Partner vor Ort in Somalia sind absolut an konstruktiver Zusammenarbeit interessiert“, geht er schließlich ins Detail und gerät innerlich fast ins Schwärmen: „Dieses Land ist so chaotisch. Nach zwanzig Jahren Bürgerkrieg funktionieren die öffentlichen Einrichtungen nicht. Es gibt überhaupt keine Staatlichkeit, keinerlei Überwachung, keine Strafverfolgung.“
„Failed States One: Somalia“ heißt Hans-Werner Kroesingers neuer Abend im Hebbel am Ufer. Der Dokumentartheaterregisseur startet damit ein mehrteiliges Recherche-Projekt zum Phänomen „gescheiterter Staaten“: Was genau bedeutet das eigentlich, wen bedroht es – und wer profitiert davon? Dass Kroesinger dafür seinen angestammten Ort, das kleine HAU 3, gegen das HAU 1 getauscht hat, erweist sich als Glücksfall: Der Abend ist als Parcours durchs vergleichsweise stattliche Haus inszeniert, das dem Regisseur und der Bühnenbildnerin Valerie von Stillfried die Möglichkeit gibt, ihr außerordentliches Talent für durchdachte Rauminstallationen und für das erhellende Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven optimal zur Geltung zu bringen. In diesem Sinne knüpft „Failed States One“ an große Berliner Kroesinger-Produktionen wie das Kosovo-Projekt „MorTal Combat“ um die Jahrtausendwende in der Staatsbank an.
Die somalische Nahaufnahme beginnt aus deutscher Wahrnehmungsperspektive: Im Oktober 1977, als die entführte „Landshut“ in Mogadischu landet. Der Schauspieler Armin Dallapiccola – qua Hornbrille als Staatssekretär und Verhandlungsführer Hans-Jürgen Wischnewski ausgewiesen – empfängt von seinen Kolleginnen Abak Safaei-Rad und Judica Albrecht alias Staatssekretär Ruhnau und Bundeskanzler Schmidt noch einmal die verschlüsselten telefonischen Handlungsanweisungen und rekapituliert die Verhandlungen, die dem Einsatz der GSG 9 und der erfolgreichen Befreiung der Geiseln seinerzeit vorausgingen.
Anschließend verschiebt Kroesinger abrupt die Sichtachse. In drei Gruppen unterteilt, bekommt das Publikum an verschiedenen Orten des Hauses eine Art Landeskundeseminar geboten, mit jeweils variierenden Schwerpunkten. Ein Teil der Zuschauer blickt aus maximaler Distanz – von den hintersten Reihen des zweiten Ranges – steil nach unten, wo Lajos Talamonti als Referent die Ausbeutung Somalias unter der italienischen Kolonialherrschaft beschreibt.
Zum Finale auf der Hinterbühne spannt Kroesinger schließlich den Bogen vom somalischen Bürgerkrieg nach dem Sturz des Präsidenten Siad Barre 1991 bis zum aufsehenerregenden Hamburger Piraten-Prozess, dessen Urteilsverkündung vor wenigen Wochen noch allseits präsent ist: Eine Passage, die die deutsche Wahrnehmungsperspektive vom Beginn unter veränderten Vorzeichen geschickt wieder aufnimmt.
Nach den historischen Vorkenntnissen, die der Abend bis dato vermittelt hat, lässt dieser Aufhänger – der Prozess gegen zehn Somalier, die im April 2010 ein deutsches Containerschiff entführt hatten – viel Raum für Schlaglichter auf den „Wirtschaftskrieg“, den die Piraten am Horn von Afrika führen. Bis zu 40 000 US-Dollar, erfahren wir, könne ein einfacher Mann „verdienen“, wenn er zu den ersten gehört, die ein Schiff entern. Das ist mehr als das Hundertdreißigfache des durchschnittlichen somalischen Jahreseinkommens. Wie immer bei Kroesinger ist der intellektuelle Ertrag nicht anstrengungsfrei zu haben: Ein kulinarischer Spaziergang sind die knapp zwei Theaterstunden nicht. Christine Wahl
HAU 1, Stresemannstraße 29, noch einmal vom 16. bis 18. 1., 20 Uhr
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