Leipziger Buchmesse: Wo bitte geht’s nach Mitteleuropa?
Die Samtene Revolution ist dreißig Jahre her: Was hat Tschechien aus seiner Freiheit gemacht? Ein Besuch im Gastland der Leipziger Buchmesse.
Im südöstlichsten Zipfel von Mähren, im Park von Schloss Lednice, bohrt sich ein orientalischer Stachel in den tschechischen Himmel. Mit 60 Metern ist er das höchste Minarett im Lande. Gut zwei Jahrhunderte nachdem Fürst Alois Josef I. von Liechtenstein es als morgenländische Fantasie errichten ließ, ist es allerdings noch immer das einzige. Die Muslime im Land, mehrheitlich einheimische Konvertiten, sind mit ein bis maximal zwei Tausendstel der Gesamtbevölkerung von knapp 10,6 Millionen eine fast unsichtbare Minderheit.
Dennoch fand der Halbjapaner Tomio Okamura mit seiner Forderung, den Islam zu verbieten, bei den letzten Wahlen im Oktober 2017 so viel Anklang, dass seine rechtsextreme Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD) mit über zehn Prozent der Stimmen als viertstärkste Kraft ins Prager Parlament einzog. Ministerpräsident Andrej Babiš schlug Okamuras Koalitionsangebot zwar aus und verbündete sich mit den Sozialdemokraten zu einer Minderheitsregierung. Das macht seine eigene Partei, die „Aktion unzufriedener Bürger“ (ANO), mit knapp 30 Prozent Tschechiens stärkste Kraft, aber nicht geheurer – und ihn nicht weniger suspekt.
Der 64-jährige Tycoon Babiš, nach Petr Kellner Tschechiens reichster Mann, steht für eine einwanderungsfeindliche Politik und das Versprechen, sein Land wie ein Unternehmen zu führen. Ansonsten ist seine Politik so unbestimmt wie seine Kampfansage gegen ein Establishment, dem er als Finanzminister selbst angehörte. Doch die wirtschaftliche Lage ist Babiš auch ohne eigenes Zutun gewogen. Die Arbeitslosenquote von derzeit drei Prozent ist die niedrigste in ganz Europa. Zugleich misstraut ihm, zum Teil offen demonstrierend, das halbe Volk, und die, die er schon als Kaffeehausliteraten verächtlich gemacht hat, tun es ohnehin. Babiš steht unter dem unwiderlegten Verdacht, 2008 EU-Subventionen für private Immobiliengeschäfte eingesetzt und zu kommunistischen Zeiten Spitzeldienste geleistet zu haben.
Wo ist Pan Tau geblieben?
Was ist das für ein Land, das 1989, damals noch Hand in Hand mit der Slowakei, eine Samtene Revolution erlebte und in Gestalt von Staatspräsident Václav Havel die seltene Einheit von bürgerrechtlicher Unbeugsamkeit und intellektueller Imaginationskraft gefunden zu haben schien? Wie konnte es kommen, dass sein heutiger Nachfolger Miloš Zeman seine wirtschaftlichen Kontakte so beharrlich wie kein zweiter europäischer Spitzenpolitiker in Richtung China ausbaut? Und in welchen kulturellen Wahrnehmungswinkel hat sich Tschechien seit den Tagen von Pan Tau, Jaroslav Seifert, Bohumil Hrabal, Milan Kundera und Ivan Klíma entfernt?
Im Audimax der philosophischen Fakultät der Prager Karlsuniversität sitzen an einem späten Januartag drei Studentinnen aus der Zeit des Umbruchs, unter ihnen die namhafte Dichterin, Essayistin und Altgräzistin Sylva Fischerová, und wissen auch nicht so recht, wie die neue Zeit über sie gekommen ist. Während ringsum Stadt und Land geradezu erschreckend aufgeräumt und kosmetisch versiegelt sind, regiert im Audimax noch die alte Schäbigkeit – und mit ihr eine belebende Erinnerung. Zwei bange Monate kampierten sie hier in Erwartung von Panzern, die glücklicherweise nicht kamen. Tagsüber gingen sie hinaus, um Fabrikarbeiter zum Aufbruch in die demokratische Ungewissheit zu bekehren, nachts klebten sie heimlich Plakate.
Vielleicht muss man noch weiter zurückgehen, in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, um etwas von der Kraft zu finden, die zumindest Tschechiens Schriftsteller gegen Andrej Babiš vereint. Man kann zum Beispiel Dora Kaprálová, die Tochter des Brünner Dichters Zeno Kaprál treffen. Eine ätherische Erscheinung, die sich als „verlorene Tochter einer verlorenen Monarchie“ bezeichnet und mit jedem dahingehauchten Satz weiter auszubleichen scheint. Neben ihrer Geburtsstadt Brno, die sie zum schönsten Bezirk von Wien erklärt, hat sie ein Faible für Budapest entwickelt und eines für Berlin, wo sie seit über zehn Jahren lebt. Kaprálovás „Berliner Notizbuch“ (Balaena) berichtet in kleinen Szenen davon. Aufgewachsen mit der Kurzprosa des Wiener Miniaturenkünstlers Peter Altenberg und den Romanen von Joseph Roth genießt sie es, als tschechischer Niemand aus der Friedrichshainer Distanz zu beobachten, wie aus Russland dunkle Ideologien näher rücken. Sie hält es für einen tragikomischen Zug, dass 80 Prozent ihrer Landsleute zwar aus der Europäischen Union austreten wollen, aber vor dem Verlust der Förderung zurückschrecken. Die Ablehnung führt bis zum Überkleben des Europa-Signets auf den Autokennzeichen.
Größte Bibliotheksdichte der Welt
Tschechiens Lesekultur hat da nichts verhindern können. Einer Untersuchung von 2013 zufolge kommt auf knapp 2000 Bürger eine öffentliche Bücherei. Das ist nicht nur eine viermal bessere Versorgung als im europäischen Durchschnitt, es ist die größte Bibliotheksdichte der Welt. Ein bis 2001 geltendes Gesetz, mit dem Tomáš Garrigue Masaryk, der erste Staatspräsident der Tschechoslowakei, jedem Ort über 300 Einwohner eine Bibliothek verordnete, sollte der nationalen Bildung nach dem Abschied aus dem Habsburgerreich dienen.
Doch begann mit der neuen Freiheit nicht zugleich ein langes Elend? Die Spannungen mit den Sudetendeutschen, die 1930 mit über drei Millionen Menschen fast die Hälfte der über 7,2 Millionen Einwohner ausmachten, ließen sich durch das Auseinanderfallen in einen eingliederungswilligen und einen verweigerungswütigen Teil kaum noch einhegen. Die Wahlen 1935, in denen sich zwei Drittel zu Konrad Henleins Sudetendeutscher Partei bekannten, einem Auslandsarm der NSDAP, machten ein Miteinander noch vor dem deutschen Einmarsch 1939 schließlich unmöglich. Dies rechtfertigt nicht die brutalen Vertreibungen 1945, aber es erklärt sie. Dann kamen die Sowjets.
Heute liegt alles Multikulturelle, wenn es denn jemals funktionierte, in doppelter Entfernung. „Die Tragödie Mitteleuropas“, die Milan Kundera 1984 in seinem gleichnamigen Essay beschwor, besteht nicht mehr darin, dass ein exterritoriales Stück Westen von den Russen gekidnappt und gehirngewaschen wurde. Sie besteht vielmehr darin, dass Tschechien in diesem Westen, dessen Freiheiten es anfangs so ersehnte, mittlerweile eine neue Kolonialmacht sieht. Ivan Krastev und Stephen Holmes beschreiben in ihrem Essay „Osteuropa erklären“ (auf Deutsch im „Merkur“ 1/2019) überzeugend, wie sich bei Polen, Ungarn und Tschechen der Wunsch nach Imitation des Westens psychologisch in einen Minderwertigkeitskomplex verwandelte. Einerseits, erklären die beiden Autoren, habe der Wunsch nach dem, was Václav Havel „ein normales politisches Leben“ nannte, zu einer Massenauswanderung geführt, deren demografische Folgen heute noch zu spüren sind. Andererseits habe sich der wohlgeordnete Westen, mit dessen Bild sie aufgewachsen waren, unter der Hand in ein fremdartig säkulares, genderoffenes und migrationsfreundliches Babylon verwandelt.
Scheidung von der Slowakei
Der sichtbarste Vorbote der neuen Engherzigkeit war die Trennung von der Slowakei. Obwohl nach den Wahlen 1992 in der Bevölkerung niemand darauf aus war, vereinbarten die konträren Sieger Václav Klaus und sein slowakischer Gegenpart Vladimír Meciar in der Brünner Villa Tugendhat, einem von Mies van der Rohe konzipierten Prunkstück der Bauhaus-Architektur, innerhalb weniger Stunden die Scheidung. Sie führte erstaunlicherweise nur zu einer sprachlichen Entfremdung. Manche warten, wenn die tschechische Nationalhymne ertönt, noch immer auf den zweiten Teil. Auch der 1966 geborene Literaturwissenschaftler Tomáš Kubícek, Projektleiter des Gastlandauftritts in Leipzig, empfindet nach wie vor einen Phantomschmerz. Für mich, sagt er, ist es, als würde mir eine Hand fehlen. Von Prag bis nach Košice erstreckte sich für ihn eine Welt sprachübergreifender Freundschaften.
Böhmen und Mährer beäugen einander wahrscheinlich misstrauischer als Tschechen und Slowaken. Wenn die fixen Prager wie die Budapester und Bukarester gerne die Pariser des Ostens wären, so haben sich die bedächtigeren Brünner mit ihrer einstigen Textilindustrie um den Ruf als ein zweites Manchester beworben – mit Konkurrenz im polnischen Lodz oder im sächsischen Chemnitz. Die Sprachfärbungen tun ein Übriges, um die beiden kulturellen Zentren voneinander zu entfernen, von Hantec, dem aus jiddischen, tschechischen und deutschen Elementen zusammengesetzten Brünner Dialekt gar nicht erst zu sprechen.
Mit Host beherbergt Brno einen literarisch prägenden Verlag, dessen Wurzeln bis in die Samizdat-Zeit der achtziger Jahre zurückreichen. Dort hat Katerina Tucková, Jahrgang 1980, ihren Roman „Gerta – Das deutsche Mädchen“ (KLAK) veröffentlicht. Sie begibt sich damit auf die Spuren des Brünner Todesmarschs Ende Mai 1945, der je nach Rechnung mehrere tausend, in Richtung Österreich vertriebene Menschen das Leben kostete. Bei Host ist auch Alena Mornštajnovás dokumentarisch inspirierter Roman „Hana“ über eine deutsch-jüdisch-tschechische Familie in den Jahren von 1933 bis 1963 erschienen. Jüdische Schicksale durften bis zur Wende kaum thematisiert werden. Eine Ausnahme bildete 1968 Karol Sidons „Traum von meinem Vater“ (Ars vivendi), Erinnerungen des heutigen Landesoberrabiners an seinen aus dem KZ nicht wiedergekehrten Vater und das Leben nach dem Krieg.
Versöhnung mit den Deutschen
Bis zur Samtenen Revolution war auch die Vertreibung der Deutschen ein Tabu. Inzwischen gibt es zahlreiche Auseinandersetzungen, wobei weder Josef Urbans Roman „Habermanns Mühle“ (2001) noch seine Verfilmung unter der Regie von Juraj Herz viel taugen. Stimmiger war Simon Wielands Dokumentarfilm „Nemci van! Deutsche raus!“ (2015), der Beteiligte am Brünner Todesmarsch noch einmal an die Orte ihrer bittersten Stunden führt. Auch Katerina Tuckovás Roman leidet unter holzschnittartigen Figuren. Aber dass sich das Land mit den Deutschen einigermaßen versöhnt hat, lässt auch auf anderen Gebieten hoffen.
Die berühmte, mit „Der Mann am Grund“ (Braumüller) neuerdings zum Krimi konvertierte Kinderbuchautorin Iva Prochazková, Tochter des als Protagonist des Prager Frühlings 1968 einst verfemten Schriftstellers Jan Prochazká, erinnert sich noch genau an die Schliche, die man anwenden musste, um politisch verfängliches Gedankengut zu schmuggeln. Gerade Kinderbücher waren meist realistisch geschrieben, aber das Fantastische hatte in ihnen seinen festen Platz. Schon als Kind werde man auf die Dimension des Möglich-Unmöglichen eingeschworen. Es sei kein Zufall, sagt sie, dass die Tschechen den magischen Realismus von Gabriel García Márquez verehrten. Überhaupt dominiere ein Hang zur humorvollen Übertreibung: Jaroslav Hašeks „Schwejk“ sei das beste Beispiel.
Tschechiens Literaturlandschaft war hierzulande lange terra incognita. Nur rund fünf Übersetzungen pro Jahr verirrten sich in deutsche Verlage. Daran gemessen ist die Lage zum Messeauftritt (einen Überblick gibt ahojleipzig2019.de) fast paradiesisch, wenn die rund 70 Neuübersetzungen nicht schon wieder den Blick auf das Einzelne zu verstellen drohten. Die Einladung, die Dinge einmal von ihrer tschechischen Seite aus anzusehen, ist dennoch verlockend. Wie schreibt der Brünner Dichter Petr Hruška? „Beim Bücken / zum weggerutschten Seifenstück / plötzlich sehen / wie es beschaffen ist – / geschwollene Knie der Rohre / kriechen heraus aus der Wand / zischelnde Ritzen / Köpfe erschöpfter Schrauben / halten unten / Teile vom Bad / mit klebenden Haaren“. Für dieses Abenteuer muss man nicht einmal vor die Haustür treten.