Jazzfest: Wirf die Hämmer in die Luft
Jazzfest Berlin: Beim Schwerpunkt Polen huldigt Starpianist Leszek Mozdzer seinem berühmten Vorgänger Krzysztof Komeda
Fünf, sechs Takte – und man erkennt ihn blind. Leszek Mozdzer hat einen Glockenton, der ihn von allen anderen romantisch gefärbten Jazzpianisten unterscheidet. Harmonisch mag er ein verwechselbares Esperanto sprechen, das mal impressionistisch verschwebt und mal die Konturen heftiger Blockakkorde annimmt. Melodisch mag man das ornamentale Glitzern seines polnischen Landsmanns Frédéric Chopin und die gestochene Schärfe von Chick Corea erkennen, dessen Kunst ihn im Alter von 18 Jahren von einem auf den anderen Tag zum Jazz bekehrte.
Aber dieser Ton! Dieser Anschlag! Vom zart klöppelnden Beben bis zum mächtig aufwogenden Läuten ein einzigartiger Klang, der selbst in den schwersten melancholischen Nebeln so brillant artikuliert bleibt, wie es nur einem klassisch geschulten Pianisten gelingt. Und während man noch darüber nachdenkt, mit welchen Metaphern und Vergleichen man dieser zuweilen vielleicht gar zu schönen Virtuosenmusik Herr wird, sagt Leszek Mozdzer einfach: „Die Philosophie meines Spiels liegt nicht darin, die Tasten eines Flügels zu drücken, sondern die Hämmer in die Luft zu werfen.“
Ein paar Stunden später sitzt er allein unter den Himmeln einer heranrückenden Regenfront auf der Freilichtbühne des Posener „Meskie granie“-Festivals. Unten, auf dem Gelände des alten Gaswerks, schwitzt das Publikum noch vom Hartemännerrock der Vorgängerband. Das Zywiec-Bier zischt die Kehlen hinab, und gleich wird Leszek Mozdzers konzentrierte Hommage an Polens Jazzheiligen, den Pianisten Krzysztof Komeda, nur noch ein Spuk zwischen weiteren Mikrofonposen und Uraltriffs gewesen sein. Doch für die Zeit seines Auftritts wird es still, der Puls verlangsamt sich, und auf einmal kann es jeder hören: Der Mann, der mit seinem jüngsten, beim deutschen Label ACT erschienenen Album „Komeda“ sofort die Spitze der polnischen Popcharts erreichte und damit inzwischen doppelten Platinstatus erreicht hat, wirft die Hämmer in die Luft.
Gezeigt hat ihm das eine Lehrerin der Danziger Moniuszko-Musikakademie, die alle anderen Studenten für verrückt hielten. Das wirklich Verrückte aber ist: Man kann den Anschlag eines Pianisten zwar bis ins Letzte mechanisch definieren und sogar per Computer nachmodellieren. Aber mental hilft nur ein Bild, eine Idee, die eben diese Mechanik auflöst. „Wer du bist“, sagt Mozdzer, „hängt davon ab, wie viele Stunden am Tag du übst und welche Art von Spiritualität dir zur Verfügung steht.“ Das eine hat er jahrelang bis an die Grenzen des Bandscheibenruins praktiziert, mit dem anderen hat er seinen eigenen Wahn, der aus einer Art Selbstverachtung kam, geheilt. Geholfen haben ihm dabei, wie er erzählt, die Bewusstseinslehren des amerikanischen Psychiaters David R. Hawkins und diejenigen des hinduistischen Swami Paramahamsa Nithyananda – beide sicher nicht die vertrauenswürdigsten geistigen Lehrer, doch in einer Erkenntnis einig, die umzusetzen eine ewige Herausforderung bleibt. „Wer zu viel denkt, beginnt zu leiden“, weiß Mozdzer. „Es kommt als Musiker darauf an, die Balance zwischen Denken und Nichtdenken zu finden.“
Der Erfolgt hängt allerdings auch vom musikalischen Material ab, das einem zur Verfügung steht. Die berühmtesten Melodien von „Komeda“ – „Svantetic“ oder die „Ballad for Bernt“ – liegen auch nach einem halben Jahrhundert noch in der polnischen Luft, bereit, wieder und wieder in neuen Versionen zu erklingen. Was mindestens soviel mit dem verführerisch simplen (manche behaupten: slawischen) Genie der bittersüßen Kompositionen von Krzysztof Komeda aus Posen zu tun hat wie mit ihrer Überlieferung – und der völlig anderen Situation, in der er, im Hauptberuf lange Arzt, einst seinen Ruhm erwarb.
Als sich der Jazz im nachstalinistischen Tauwetter aus den Katakomben endlich auf Polens große Bühnen wagen durfte, wurde der 25-Jährige durch die kühle Eleganz seines Sextetts schon 1956, nach dem ersten großen Auftritt beim Jazzfestival von Sopot in der Danziger Bucht, zur Lichtfigur. 1957 waren in Sopot bereits Albert und Emil Mangelsdorff zu Gast, zusammen mit dem Kritiker, Impresario und Berliner Jazzfestgründer Joachim-Ernst Berendt, der mit Komeda später das Album „Meine süße europäische Heimat“ zu Texten polnischer Dichter wie Czeslaw Milosz produzierte.
Chamäleonhafte Vielseitigkeit
1958 schrieb Komeda seine erste Filmmusik für den Kurzfilm „Zwei Männer und ein Schrank“, dessen Regisseur Roman Polanski er im Jahr zuvor an der Filmhochschule von Lodz kennengelernt hatte. Dann ging es Schlag auf Schlag. Alle polnischen Kinoregisseure, von Andrzej Wajda bis Jerzy Skolimowski, baten ihn um Kompositionen. 1965 spielte er zusammen mit dem Frankfurter Bassisten Günter Lenz die bahnbrechende Platte „Astigmatic“ ein, die ein zeitgenössisch abstraktes Vokabular erprobt, das sich mit den parallelen Versuchen eines Paul Bley durchaus messen kann.
1967 holte ihn Polanski, für den er fast ununterbrochen komponiert hatte, nach Hollywood. Die Musik zu „Rosemary's Baby“ indes wurde seine letzte Arbeit. Am 23. April 1969, vier Tage vor seinem 38. Geburtstag und nach Monaten im Koma, war er tot. Es geht die Mär, dass Komedas Freund, der große Schriftsteller Marek Hlasko, ihn in einem seiner Anfälle von Überschwang so heftig in die Luft stemmte, dass Komeda unglücklich stürzte und sich eine Hirnblutung zuzog. Die Legende des tragisch Unvollendeten war geboren.
Mozdzer ist mit seinen vierzig Jahren zu jung, um noch mit Komeda gespielt zu haben, aber im Lauf der zwanzig Jazzjahre und hundert Platten, die hinter ihm liegen, hat er mit so ziemlich jedem Überlebenden gearbeitet, dessen Wege sich irgendwann mit denen von Komeda kreuzten. Die überschaubare Szene, der Komedas international berühmteste Mitstreiter, der Trompeter Tomasz Stanko oder der Altsaxofonist Zbigniew Namyslowski angehörten, ist untergegangen. Doch in dem medial explodierten, hart umkämpften Feld, in dem Mozdzer seit Jahren als bester polnischer Pianist seiner Generation und Nachfahr Komedas gehandelt wird, sind viele ihrer damaligen Protagonisten noch quicklebendig.
Von einem Verdrängungswettbewerb zwischen den Generationen will er dennoch nichts wissen, nicht nur, weil er, bisher ein Weltstar in Polen, durch seine Auftritte mit Pat Metheny, Lester Bowie oder Archie Shepp längst auf dem Sprung in die globale Liga ist. „Ich habe nie gegen das Establishment gekämpft“, sagt er. „Um die Wahrheit zu sagen: Es gab in Polen nie so etwas wie ein Jazz-Establishment. Jeder Musiker hat als freier Mensch zu überleben versucht. Das Problem war, dass Tymon Tymanski, der Leader unserer Band Milosc (Liebe), einmal öffentlich die Älteren attackierte, vielleicht aus der Furcht heraus, nicht akzeptiert zu werden.“
Mozdzers Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten rührt natürlich auch von seiner ins Chamäleonhafte reichenden Vielseitigkeit her. Kein Stil, dem er sich im Unterschied zu den Autodidakten der Free-Szene, in der er sich lange austobte, nicht anpassen könnte – bis hin zum Death Metal von Behemoth, die ihn zu ihrem Album „The Apostasy“ einluden. Keine technische Herausforderung, die ihn schrecken würde.
Ob er mal eben im Studio für Pat Metheny dessen Gitarrensoli transkribiert, einen großorchestralen „Psalm für David“ komponiert, mit Steve Reichs „Piano Phase“ auftritt oder einem Crossover-Projekt zu Witold Lutoslawski: Er kann behaupten, dass es für ihn kein Problem sei, in den Welten von Jazz und Klassik gleichermaßen zu leben – eine Möglichkeit, die etwa Keith Jarrett, der bemerkenswerte Aufnahmen von Schostakowitsch, Händel und Bach eingespielt hat, mittlerweile für sich ausgeschlossen hat.
Dennoch bleibt auch für Leszek Mozdzer der Jazz mit seinen improvisatorischen Freiheiten die Sprache der Wahl. „Manches habe ich vielleicht hundertmal auf dieselbe Art gespielt“, sagt er. Aber beim 101. Mal spiele ich es ganz anders.“ Und: „Ein guter Gig ist für mich, wenn ich hinterher völlig durchgeschwitzt bin. Dann weiß ich, dass es gut war. Ich erinnere mich zwar auch an Auftritte, nach denen ich mich schlecht fühlte, und als ich mir die Aufnahmen anhörte, waren sie erstaunlich gut. Doch wirklich wichtig ist das Gefühl, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht. Wenn ich das erreiche, ist es eines der freudigsten Gefühle auf der Bühne.“ Er wird es auch in Berlin suchen.
Konzert: Haus der Berliner Festspiele, Do 3.11., 19 Uhr
Gregor Dotzauer
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