Interview: „Wir wollten die Pornografie zurückerobern“
Sein literarischer Erotik-Comic "Lost Girls" ist der Überraschungserfolg des Jahres. Wie es dazu kam, erklärt Alan Moore, einer der wichtigsten Autoren des Genres, in diesem Interview. Außerdem geht es um Anarchismus, Okkultismus, Kampftrinken und andere Klassiker wie sein Buch "V for Vendetta"
Herr Moore, von dem Philosophen Pascal stammt der Ausspruch, das ganze Unglück der Menschen rühre nur daher, dass sie nicht in der Lage seien, ruhig in einem Zimmer zu bleiben. Wenn es stimmt, was man so über Sie hört, müssten Sie ein sehr glücklicher Mensch sein.
Ich sitze in der Tat eine ganze Menge allein in meinem Zimmer. Aber das ist schlicht die einzige Art, auf die ich arbeiten kann. Natürlich gehe ich auch mal vor die Tür und wandere durch die Stadt, wenn es ein schöner Tag ist. Die Einsamkeit ist der Konzentration allerdings sehr zuträglich, wenn man in Ruhe arbeiten will.
Sie meiden Comic-Messen, Conventions und öffentliche Auftritte. Man könnte meinen, soziales Leben sei Ihnen unangenehm.
Nicht generell. Comic-Messen sind mir allerdings zu laut und zu voll. Außerdem bin ich häufig enttäuscht von der Branche. Vieles ist so konservativ und feige, und seit dem 11.9. sind alle noch hysterischer geworden. Wenn ich höre, dass Frank Miller gerade an einem Comic namens „Batman vs. Al-Qaida“ arbeitet, dann schäme ich mich, in derselben Industrie tätig zu sein. Auch deshalb meide ich den Rummel.
Aber Sie haben schon Verständnis dafür, dass Fans Sie gerne kennen lernen würden?
Ja, aber ich denke, dass das gar nicht wirklich notwendig ist. Wenn Leute mich auf einer Messe treffen und ansprechen, dann geht das ja selten über ein paar Minuten nettes Geplauder hinaus. In so einem Rahmen ist es doch fast unmöglich, eine bedeutsame Unterhaltung zu haben. Ich denke oft, wenn die Leute meine Arbeit betrachten, dann haben sie eigentlich ein lohnenderes Treffen mit mir.
Dem Bild eines menschenscheuen Eigenbrödler arbeiten sie aber auch nicht wirklich entgegen, oder? Als wir vor zwei Jahren anlässlich des Erscheinens der amerikanischen Ausgabe von „Lost Girls“ mit Ihnen reden wollten, hieß es: Sorry, keine Interviews mehr. Als jetzt die Zusage kam, haben wir angeboten, Sie in Northampton zu besuchen. Sie haben abgelehnt.
Als die amerikanische Ausgabe erschien, gab es einen extrem hektischen Terminplan. Irgendwann wurden es so viele Interviews, dass ich keine Zeit mehr zum Arbeiten fand. Inzwischen bin ich wieder frisch. Trotzdem sind Telefoninterviews das einzige, was ich momentan handhaben kann. Persönliche Gespräche kann ich nur machen, wenn ich nicht arbeite. Gerade sitze ich aber an einem Buch. Und auch wenn Ihr Besuch nur ein paar Stunden lang gewesen wäre, hätte das für mich bedeutet, dass ich Tage gebraucht hätte, um wieder in meinen Arbeitsrhythmus zu finden.
Also Rückzug aus Sachzwang, nicht aufgrund von Weltekel.
Ja. Wenn sie sich meine Biografie ansehen, dann merken Sie, dass ich in meiner Karriere eine unglaubliche Vielzahl von Dinge gemacht habe. Das war nur möglich, weil ich einen Großteil meiner Zeit darauf und nicht auf Partys verwendet habe. Es ist nicht so, dass ich Menschen nicht mag. Aber wenn ich auf Messen oder solche Event gehe, dann treffe ich keine Menschen, sondern nur eine Menschenmasse. Das bedeutet mir nichts.
Nichts?
Im Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein, ist nichts, was ich jemals wirklich wollte. Meine Berühmtheit steht meiner Arbeit sogar eher im Weg. Hier in meiner Heimat Northampton werde ich behandelt, wie jemand, den man halt gelegentlich auf der Straße trifft. Die Leute machen kein großes Aufheben um mich. Das ist einer der Gründe, warum ich hier lebe.
Und die Stadt auch selten verlassen, oder?
Ich reise nicht viel und schon gar nicht außerhalb des Landes. Gelegentlich fahre ich nach London, um Freunde zu treffen. Aber ich bin definitiv kein Globetrotter. Ich liebe Northampton, ich fühle mich hier zu Hause. Hier habe ich mein ganzes Leben gelebt, hier hat meine Familie seit ein paar Generationen ihre Wurzeln. Northampton ist in meinem Blut. Ich kann mir nicht vorstellen, hier wegzuziehen.
Können Sie Northampton ein wenig beschreiben? Einer ihrer Fans bezeichnete es in einem Blog mal als „Vorort der Hölle“.
Es gibt viele, die es hier wirklich nicht mögen. Alan Carr, ein Comedien, sagte mal, das einzig gute hier sei die M1 – die Autobahn, die aus der Stadt wegführt. Es gibt aber immer noch Teile, die sehr charmant und geheimnisvoll sind, die überlebt haben. Hier hat ja viel britische Geschichte stattgefunden. Und wenn auch nicht landschaftlich, so ist die Stadt doch architektonisch eine der interessantesten im Land. Außerdem gibt es hier eine Grundehrlichkeit unter den Menschen. Es ist etwas Grundsolides an Northampton. Wenn Sie Freitagnachts unterwegs sind, würden Sie aber wahrscheinlich auch eher von einem Vorort der Hölle sprechen.
Warum?
Binge Drinking, eine ausgeprägte Kultur der Gewalt… Northampton ist nicht nur geographisch das Zentrum Englands. Die Stadt ist ein Schnappschuss von allem, was in England gerade falsch läuft. Es fehlt etwas Undefinierbares im Geist der Stadt, das in den Zeiten meiner Eltern noch da war. Es gibt zwar auch viel versprechende Ansätze, ich arbeite zum Beispiel mit einer Hip-Hop-Gruppe aus der Nachbarschaft zusammen, die eine Video über die Geschichte der Nachbarschaft gemacht hat, aber da redet keiner drüber. In den Nachrichten landen die Messerstechereien. Dadurch entsteht das Bild, alle unsere Teenager wären trunkene Soziopathen, die sich gegenseitig aufschlitzen. Die Situation ist schlecht, fraglos. Aber das ist alles nichts, was nicht aus der Welt geschafft werden könnten, wenn wir nur eine vernünftige Regierung hätten.
Die haben Sie nicht?
Nicht nur wir. Das ist ein Problem, das es auf der ganzen Welt gibt. Für Autoren beispielsweise gibt es Regeln, nach denen man die guten von den schlechten trennt. Bei Journalisten wie Ihnen ist das das gleiche. Wenn man seinen Job behalten und anerkannt werden will, dann tut man gut daran, sich an diese Regeln zu halten. In der Politik gibt es das nicht. Da scheint es überhaupt keine Regeln zu geben. Trotzdem werden auch unfähige Politiker unglaublich gut bezahlt und auch noch abgefunden, wenn sie Mist gemacht haben. Dabei ist das einzige sichtbare Zeichen ihrer Arbeit die Degeneration unserer Kultur.
Was folgern sie daraus? Politik funktioniert nicht, oder sind immer nur die falschen Leute an der Macht?
Ich neige dazu, zu glauben, dass das komplette System nicht funktioniert. Kürzlich habe ich eine Vorlesung an der Londoner School of Economics gehört. Die Dozentin sagte, unsere Politiker würde nichts wirklich für uns tun. Der einzige Grund, aus dem wir ihnen erlaubten, uns zu regieren, was nichts anderes heißt, als uns herumzuschubsen und die Staatseinnahmen zu erhöhen, ist, dass sie die Währung kontrollieren. Da verändert sich aber gerade einiges. Alternative Währungen im Internet zum Beispiel. Diese Portale, wo Menschen für Arbeiten Punkte bekommen und diese gegen andere Arbeiten eintauschen können.
Das gibt’s auch hierzulande. Politiker haben das schon als öffentliche Steuerhinterziehung gegeißelt.
Ja, natürlich. Aber letztendlich sind alle Währungen illusorisch. Das ist wie Massenhypnose. Bedrucktes Papier wäre nichts wert, wenn die Leute nicht daran glauben würden. In der Zukunft, hat die Dozentin gesagt, werden wir kein offizielles Geld und auch keine Regierung mehr haben. Alles was wir brauchen sind Verwalter. Es ist ja nicht so, als wären all unsere Führer brillante Genies, die unser Leben glücklicher machen. Vielleicht sehen wir ja irgendwann ein, dass Politiker ein sehr teuerer Luxus sind, der uns nicht wirklich dient.
Gehen sie noch wählen?
Nein. Ich bin Anarchist. Ich habe nur einmal in meinem Leben gewählt, Labour. Damals muss ich 18 der 19 Jahre alt gewesen sein. Freunde sagten, ich müsse den faschistischen Kandidaten der Torries verhindern. Der Labour-Mann gewann und hat unverzüglich amerikanische Raketen in unserem Land stationiert, führte eine härtere Immigrationspolitik ein und das alles in meinem Namen. Also entschied ich mich, dass die einzige Form, in der ich politisch tätig werden kann, eine direkte ist. Wir haben doch eh keine richtige Demokratie. Als es die großen Antikriegsdemonstrationen gab und ein bis zwei Millionen Menschen gegen einen Einmarsch im Irak auf die Straße gingen, hat das in der Regierung niemanden gekümmert. Das kann ich nicht respektieren.
Was meinen sie mit direkter Einflussnahme? Welche Werkzeuge bleiben Ihnen?
Ich habe Glück, dass meine Bücher ganz ordentlich gelesen werden. Es ist immer schwierig, den Einfluss zu beziffern, den man hat, aber es gibt ihn. Kürzlich habe ich im Fernsehen Bilder einer Demonstration vor einer Scientology-Zentrale gesehen, und viele der Demonstranten trugen die Maske meiner Figur aus „V for Vendetta“. In Amerika hat sich eine Gruppe „A for Anarchy“ genannt. „Swamp Thing“ war vor 25 Jahren ein sehr ökologisch engagiertes Werk, und damals war Naturschutz noch nicht so ein Thema wie heute. Ich will nicht sagen, dass ich alleine das heute so weit verbreitete Umweltbewusstsein losgetreten habe, aber ich möchte doch glauben, dass ich einen kleinen Teil dazu beigetragen habe.
Die Hauptfigur aus „V for Vendetta“ setzt Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ein. Halten Sie das für legitim?
Das ist in der Tat eine der moralischen Fragen des Buches. Von einem ideellen Standpunkt aus, denke ich, dass Gewalt falsch ist. Auch wenn Menschen das Recht haben sollten, sich selbst zu verteidigen. Sonst würden die Leute, die nicht an Gewaltlosigkeit glauben, ja permanent gewinnen. Sollten die Demonstranten mit den Masken jedoch wie die Figur aus meinem Buch konservative Politiker in ihren Betten umbringen, dann ginge das definitiv zu weit. Das könnte ich nicht vertreten.
Ist das in England eigentlich erlaubt, sich bei Demonstrationen zu maskieren?
Ich denke doch. Bei der Unmenge an Überwachungskameras die wir hier haben, ist das ja auch sinnvoll.
Mehr Überwachung wird auch in Deutschland derzeit heftig diskutiert.
Dabei bringt es überhaupt nichts. Kürzlich hat doch sogar unsere Polizei zugegeben, dass sie das ganze Material überhaupt nicht sichten kann, das da angehäuft wird. Trotzdem bauen sie weiter an dieser riesigen Parodie von George Orwells 1984. Während der Olympischen Spiele sollen in der Innenstadt Großbildschirme aufgestellt werden. Überall. Und hier in Northampton reden die Kameras schon gelegentlich mit einem.
Da läuft ein Tonband?
Nein, ein Kontrolleur sagt Ihnen dann über Lautsprecher, dass Sie Ihren Müll aufheben sollen. Das ist so lächerlich. Das macht niemanden sicherer, es verhindert keine Verbrechen. Allerdings fühlen sich alle ein bisschen mehr überwacht, belästigt und wütend.
Gibt es niemanden, der dafür ist?
Die Mittelklasse vielleicht. Wenn die denkt, ihre teuren Autos wären in Gefahr, dann wollen sie wenigsten die Chance haben, jemanden zu erwischen. Es gibt einen Teil der Mittelschicht, der denkt, es ist okay, Persönlichkeitsrechte aufzugeben, wenn dann der Jaguar sicher ist.
Wie stark spürt man in England die Rückkehr des Konservatismus? Labour werden ja inzwischen keine großen Chance mehr bei der kommenden Wahl eingeräumt.
Stimmt, auch wenn es keinen Unterschied macht, ob Labour oder die Torries gewinnen. Die Labour-Party hat nichts mehr von dem, was sie in den siebziger Jahren ausgezeichnet hat. Ich glaube aber, dass es in der Geschichte immer wieder solche Schübe von Konservatismus gab, die dann später wieder Progressives gefördert haben. Jedes Mal geht es also ein Stückchen weiter. Drei Schritte vor, zwei zurück. Ich habe also Hoffnung, dass es besser wird. Es ist schließlich nicht zu leugnen, dass wie heute in einer wesentlich schöneren Welt leben als noch vor 40 Jahren. Aber es ist immer noch ein weiter Weg zu gehen.
Wenn sie über Politik reden, habe ich das Gefühl, mit jemandem zu sprechen, der sehr im Diesseits verankert ist. Wie geht das mit ihrem Interesse für Okkultismus zusammen?
Das passt sehr gut. Magie ist eine Lebenseinstellung für mich, eine Art zu denken. Und die Magie, die ich praktiziere, hat viel mit der Welt zu tun, in der wir leben. Magie ist zu einem gewissen Grade ein Synonym für Kreativität. Es ist etwas, was die Geister von Menschen verändert.
Können sie das genauer definieren?
Magie ist das Nachdenken über das Nachdenken. Manche Menschen haben sie definiert als den Akt der Veränderung im Gleichklang mit dem Willen. Damit habe ich ein Problem. Ich versuche nicht, das physikalische Universum zu verändern. Ich will nicht Blei in Gold verwandeln, ich will keine bösen Geister beschwören, keinen Regen erzeugen und auch nicht mit Hilfe von Magie fliegen. Wenn ich fliegen will, kaufe ich mir ein Flugticket. Das ist wesentlich vernünftiger und sinnvoller. Ich benutze Magie um zu verstehen, und Ebenen der Wahrnehmung und Realität zu erreichen, die ich sonst nicht betreten könnte. Magie ist für mich ein Weg mit unserem Geist in Verbindung zu treten, was dem Bewusstsein einen größeren Handlungsspielraum einräumt.
Und das geht wie? Reden wir hier von Meditation? Von Ritualen?
Von beidem. Ein Ritual ist nur eine Form, den Geist zu programmieren. Was genau gemacht wird, und welche Wörter gesprochen werden, ist aber nicht so wichtig. Hauptsache, sie haben einen Widerhall im Geist. Viel Magie ist übrigens tatsächlich Meditation. Meditation, die von einem Ritual geleitet wird. Wenn man seine Wahrnehmung ein wenig verschoben hat, dann merkt man, dass es eigentlich zwei Welten gibt. Die der materiellen Dinge, die wir abmessen können, und die Welt unserer Gedanken, die wir nicht anfassen können. Würde man sich keinen Stuhl ausdenken, gäbe es auch keinen physischen Stuhl. Magie spricht von dieser immateriellen Welt. Der Welt, auf der alles Physische steht.
Die aktuelle neurobiologische Forschung dürfte Ihnen dann nicht besonders zusagen, oder?
Stimmt. Die sagt, das Bewusstsein ist nicht wirklich existent, sondern nur ein Nebenprodukt unserer Biologie. Das sehe ich anders, kann aber verstehen, warum die Wissenschaft das behaupten muss. Sonst könnte es ja nicht im traditionellen Rahmen erklärt werden. Aber wenn wir diese wissenschaftliche Erklärung akzeptieren, limitieren wir uns selbst. Richtig und Falsch wären egal, weil chemische Prozesse keine Moral kennen. Und wenn wir ein großartiges Kunstwerk schaffen, dann geschähe das mehr oder weniger nur aus Zufall. Das akzeptiere ich nicht. Auch deshalb arbeite ich momentan mit Freunden an einem Buch über Magie. Es soll gründlich recherchiert, aber auch lustig sein. Es gibt eine Abhandlung über die Geschichte der Magie, einen theoretischen Teil und eine Reihe von Übungen zum Nachmachen. Wir wollen Magie von dieser sinistren Aura lösen, die sie gar nicht haben müsste. Was bei Siegmund Freud als so bahnbrechend empfunden wurde, war im 19, Jahrhundert in okkulten Logen allgemeine Praxis. Nur das Magier eher von Unterwelt und nicht vom Unterbewusstsein und von Dämonen statt von Komplexen oder Obsessionen gesprochen hätten. Aber eigentlich ist es dasselbe Feld. Psychologie ist lediglich Okkultismus mit einem Laborkittel.
Sie haben schon früher häufig mit Freunden zusammen gearbeitet. Melinda Gebbie, mit der sie „Lost Girls“ schrieben, wurde schließlich sogar ihre Frau. Bereicherte oder behinderte diese Vertrautheit die Arbeitsbeziehung?
Wenn Melinda und ich nicht zusammengearbeitet hätten, wären wir nie ein Paar geworden. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das Buch diese Wärme hätte, die es jetzt besitzt. Die Zusammenarbeit hat uns ein paar unglaubliche Vorteile und Stärken gegeben. Von Anfang an mussten wir absolut aufrichtig in Bezug auf unsere sexuellen Phantasien sein. Es gibt Paare, die kommen an das Ende ihrer Beziehung und haben nie etwas derart Ehrliches und Intimes erlebt.
Sie haben „Lost Girls“ selbst als pornografisch bezeichnet. Die Kunsttheoretiker tun sich sehr schwer, eine Definition zu finden, die Kunst von Pornografie abgrenzen könnte.
Eine erotische Komponente ist jedenfalls kein Grund, aus dem etwas nicht Kunst sein sollte. Wenn wir uns die unglaubliche Zahl von klassischen Gemälden oder Skulpturen ansehen, dann finden wir da viel Erotisches. Die Venus von Willendorf zum Beispiel, oder die Fresken in antiken griechischen Bädern. Da gab es gar keine Vorstellung von Pornografie. Das waren einfach Szenen aus dem Leben. Warum sollten wir uns also überhaupt die Mühe machen, da zu trennen? Das soll nun aber auch nicht heißen, dass jede Pornografie, die Kunst sein will, das auch ist. Ich glaube einfach, die meisten von uns erkennen Kunst, wenn sie sie sehen. Eine objektive Definition gibt es nicht. Aber wenn sie völlig fehlt, dann merken wir das. Die meisten Pornofilme heute wollen aber wohl auch gar nicht mehr sein als halbwegs verlässliche Masturbationsvorlagen.
Heute ist Pornografie im Mainstream angekommen. Porno-Starletts spielen in Videos von Rockbands mit, ehemalige Darstellerinnen tauchen in TV-Shows auf, junge Frauen geben offen zu, sich für Pornos zu interessieren. Wie betrachten Sie diese Entwicklung?
Ich habe das auch beobachtet. Die Hälfte der Menschen, die bei den „Lost-Girls“-Signierstunden warten, sind Frauen. Die scheinen nicht besonders peinlich berührt zu sein, das Buch zu kaufen. Das Stigma ist weg. Vielleicht hat das aber auch etwas Gutes. Wenn die Leute dazu stehen, was ihnen an Pornografie gefällt, dann bringt das vielleicht ein paar Standards mit sich. Das ist wichtig. Jedes andere Genre hat gewisse Qualitätsstandards entwickelt. Es erscheint seltsam, dass Pornografie da ausgenommen werden sollte.
Wieso ist das in Ihren Augen wichtig?
Es gibt offensichtlich ein menschliches Bedürfnis, über unsere Sexualität zu reden, unsere Fantasien auszudrücken. Was sind die großen Themen in der Literatur? Sex und Tod. Die Frage ist also nicht, werden wir Pornografie haben oder nicht? Die Antwort ist: Ja. Die Frage, die sich stellt, ist: Wird es gute oder schlechte sein?
Und wie passen die „Lost Girls“ da hinein?
Wir wollten die Pornografie zurückerobern.
Wie das?
Der Unterschied ist eine Frage des Stils. Ein Ziel, das wir hatten, war, das Buch für ein weibliches Publikum zugänglich zu machen. Melinda sagte, für Frauen sei es wichtig, dass es sinnlich sei. Klassische Pornografie ist ausgeleuchtet wie ein OP-Saal bei einem Eingriff. Unser Buch sollte warm und schön sein – schöne Kleider, schönes Licht. Auch der emotionale Aspekt sollte eine große Rolle spielen. Alle Figuren in dem Buch haben eine Geschichte, sind Charaktere, die zueinander in Beziehung stehen. Das ist ein großer Unterschied zu vielen herkömmlichen pornografischen Werken.
Hat sich das Medium Comic für diesen Ansatz angeboten?
Natürlich, wir konnten so ohne viel Aufwand eine ganz eigene Welt kreieren. Das Zusammenwirken von Text und Bild ist aber generell etwas sehr gutes. Dadurch werden gleichzeitig beide Gehirnhälften angeregt. Die Sprache ist das rationale, das Bild die emotionale Informationen. Man erinnert sich so auch besser an das, was man gelesen hat. Das hat das Pentagon mal untersucht.
Haben Sie bei der Arbeit eigentlich etwas über Frauen gelernt, was sie überrascht hat?
Ich denke nicht. Ich war ja auch schon über 40 Jahre alt, als wir mit der Arbeit anfingen. Und ich halte mich für einen ganz guten Beobachter.
Alan Moore wurde am 18. November 1953 im englischen Northampton als Sohn eines Arbeiters und einer Buchbinderin geboren. Er begann seine Karriere als Cartoonist für Zeitungen, zeichnete nach eigenem Bekunden aber nicht gut und nicht schnell genug und verlegte sich deshalb auf das Schreiben von Comics. Heute gilt er als einer der wegweisenden Autoren des Mediums. Viele seiner Werke wurden verfilmt, Moore distanziert sich jedoch vehement von allen Adaptionen. Derzeit arbeitet „300“-Regisseur Zack Synder an einer Kinofassung von Moores Comic „Watchmen“, den das Time Magazine zu einem der besten 100 Romane des 20. Jahrhunderts kürte. Zuletzt erschien von Alan Moore das dreibändige pornografische Werk „Lost Girls“, das er gemeinsam mit seiner zweiten Frau Melinda Gebbie schrieb. Alan Moore hat zwei erwachsene Töchter aus erster Ehe. Gemeinsam mit Melinda Gebbie lebt er heute in Northampton.
Bibliografie (Auswahl) V for Vendetta (1982 – 1989) Swamp Thing (1983 – 1987) Watchmen (1986 – 1987) Batman: The Killing Joke (1988) From Hell (1989 – 1998) The League of Extraordinary Gentlemen (1999 – 2003)
"Lost Girls" von Alan Moore und Melinda Gebbie-Moore ist im Verlag Cross Cult erschienen und liegt bereits in der zweiten Auflage vor (3 Alben im Schuber, Hardcover, vierfarbig, 336 Seiten, 75 Euro, ISBN: 978-3-936480-00-9). Leseprobe hier.
Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift Galore (www.galore.de) und ist dort unter diesem Link zu finden.
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