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Schrei so laut du kannst. Ein Demonstrant hält am Mittwoch in Istanbul ein Bild von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in die Höhe.
© AFP

Proteste in der Türkei: „Wir werden nicht weichen“

Im Zentrum der Proteste: Der Künstler Bedri Baykam hat sein Atelier nahe beim Taksim-Platz. Ein Gespräch über das System Erdogan, demokratische Willkür und die Aussichten der Bewegung.

Herr Baykam. Sie waren im Herzen der Proteste am Gezi-Park in Istanbul, als Tausende von frustrierten Menschen auf die Straße gingen, um ihren liberalen Lebensstil zu verteidigen. Was haben Sie in den vergangenen Tagen erlebt?

Was auf den Straßen von Istanbul passiert, ist unglaublich. Alte, Junge, Arbeiter, Geschäftsleute, alle vereinen sich, um dem zynischen Regime von Erdogan die Stirn zu bieten. Die Polizeikräfte verwenden aus nächster Nähe Tränengas, um uns einzuschüchtern und uns blind zu machen. Sie terrorisieren uns und setzen Gewalt ein. Sie töten Menschen. Aber wir werden nicht weichen.

Sie sind Künstler, Autor und engagieren sich als Politiker in der linken Szene. Sie haben ein Atelier in der Nähe des Taksim-Platzes, wo die Proteste wüten. Erleben wir hier eine echte Revolution?

Wir erleben einen historischen Moment. Man kann die Situation in Istanbul mit den Ausschreitungen in Berkley von 1969 vergleichen, als die Bewohner der College-Stadt in Kalifornien einen öffentlichen Park vor der Vernichtung verteidigten, um im Anschluss für Freiheit und Recht im ganzen Land zu protestieren. Auch darum geht es auf dem Taksim-Platz. Uns geht es um die Grundlagen der Demokratie, nicht nur um ein paar Bäume. Wir wollen in keinem Staat leben, in dem der Gebrauch von Alkohol mit Drogenkonsum gleichgesetzt wird und Frauen sich dafür schämen müssen, Sex vor der Ehe zu haben.

Welche Schikanen erleben Sie im Alltag?

Wir Künstler und Intellektuelle sind vom Despotismus besonders betroffen. Auf dem Spiel steht das Leben in Freiheit und Gleichheit. Rechte werden immer weiter eingeschränkt; die Bevölkerung wird bei politischen Entscheidungen nicht mehr gefragt; einige islamische Politiker entscheiden über das Schicksal einer ganzen Nation, ohne sich für die Belange der Menschen zu interessieren. Auch die Meinungsfreiheit ist in Gefahr. Das hat sich vor allem während der Proteste gezeigt: Als Menschen auf den Straßen von Istanbul ihr Leben für ihr Land opferten, haben türkische TV-Sender Filme über Pinguine ausgestrahlt. All das sind Anzeichen für ein despotisch geführtes Land und zeigen die Ignoranz und Stumpfsinnigkeit der politischen Klasse.

Was hat sich in den vergangenen Jahren in der Türkei verändert?

Bislang basierte die Türkei noch auf dem laizistischen Prinzip von Atatürk – der Trennung von Kirche und Staat. Dieses Prinzip der Säkularität wird nun mit Füßen getreten. Erdogans Schergen sind wie Kindergärtner: Sie sagen uns, was wir zu tun und zu lassen haben, als ob wir keinen eigenen Verstand hätten. Dagegen müssen wir uns auflehnen.

Wie bewerten Sie die Rolle des Auslands und der Europäischen Union?

Der Westen ist für die Verschlechterung der Lage mitverantwortlich. Anstatt rigider gegen die AKP-Partei vorzugehen, ist die Europäische Union lediglich an guten ökonomischen Beziehungen interessiert. Als Erdogan eine konservative Verfassungsreform durchführte, hätte die EU eingreifen müssen. Doch es nichts passiert. Wichtige Politiker wie Dogu Perinçek, der Präsident der Arbeiterpartei, sitzen im Gefängnis. Kritische Zeitungen wie Cumhuriyet werden schikaniert. Universitätsrektoren wie jüngst Fatih Hilmioglu werden inhaftiert und bei Schauprozessen verurteilt. Tausende sitzen unschuldig in Gefängnissen. Der Westen schaut einfach weg. Das ist enttäuschend. Das Schweigen und Augenverschließen hat Erdogan Aufwind gegeben. Er hat sich sicher gefühlt, so wie die Despoten in den arabischen Ländern, die am Ende am Protest der Menschenmassen zerbrachen. Auch sie haben gedacht, ein System des Hasses würde funktionieren. Doch das werden wir Türken nicht zulassen.

Ist das, was in der Türkei passiert, mit dem Arabischen Frühling zu vergleichen?

Nicht wirklich. Dafür unterscheidet sich die Struktur der Protestierenden zu stark. Wir haben eine Tradition, das Erbe von Atatürk, auf das wir verweisen können: eine laizistische Grundlage. Wir sind ganz explizit gegen ein islamisches Regime. Wir wollen Demokratie und Frieden. Wir wollen Gleichheit zwischen Frauen und Männern, und wir wissen, dass wir dafür die Verfassung schützen müssen. Unsere Bewegung ist viel reifer als jene während der arabischen Proteste.

Was sollte als nächstes getan werden?

Nun ist es wichtig, dass die Energie nicht abebbt und sich politisch manifestiert. In Zukunft muss die Opposition eine gemeinsame Stimme finden, damit sich der Protest auch parlamentarisch niederschlägt und zu handfesten Veränderungen führt. Sozialisten, Sozialdemokraten, Kemalisten müssen zusammenkommen. In den nächsten Monaten müssen wir die mathematische Seite politischer Einflussnahme verstehen.

Nach der Ernüchterung in den arabischen Ländern betrachten manche Beobachter die Ausschreitungen in Istanbul und anderen Städten der Türkei mit Skepsis.

Das halte ich für zynisch. Auch das Argument, dass Erdogan ein demokratisch gewählter Anführer sei, finde ich falsch. Hitler war doch auch demokratisch gewählt. Heißt das also, dass wir demokratisch gewählte Willkür tolerieren müssen? Auf keinen Fall!

Bedri Baykam
Bedri Baykam
© Georg Moritz

Kann der Protest auf lange Sicht Früchte tragen?

Erdogan hat Angst. Er weiß nun, dass die Türkei eine Bevölkerung hat, die nicht jede despotische Entscheidung schulterzuckend akzeptiert. Es gibt eine mündige, aufmüpfige, kritische Masse von Männern und Frauen, die sich traut, die Stimme gegen Unrecht und Willkür zu erheben. Dieser Mut stimmt mich optimistisch. Diesen Mut dürfen wir nicht verlieren.

Bedri Baykam (56) gehört zu den politisch aktivsten Künstlern Istanbuls. Der Maler streitet für inhaftierte Intellektuelle. 2010 wurde er von Attentätern schwer verletzt. Das Gespräch führte Tomasz Kurianowicz.

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