Interview: "Wir halten die Tür auf"
Die Schriftstellerin Margaret Atwood über kanadische Identität, deutschen Humor und die Liebe im Kanu
Frau Atwood, Sie haben den Ruf, eine gute Kanufahrerin zu sein.
Ja, ich habe viele große Touren unternommen. Aber in meinem Alter lässt das langsam nach. Die Knie schmerzen, und die sind sehr wichtig beim Kanufahren. Also mach ich das nicht mehr so oft. Ich wuchs, wie viele Kanadier, mit dem Kanu auf. Eine Zeit lang gab ich sogar Unterricht und brachte Leuten bei, wie man das Kanu steuert. Das ist nicht einfach.
Das Kanu gilt als Teil der kanadischen Identität. Der Autor Pierre Berton schrieb: Ein Kanadier ist jemand, der im Kanu Liebe machen kann.
Das ist sehr schwierig. Es ist möglich, aber wieso sollte man so etwas kompliziertes tun?
Berton meinte es wohl als Metapher für die Naturverbundenheit und für eine spezifische kanadische Fähigkeit, die Balance zu halten...
Damit hat er wohl recht. Aber für gewöhnlich steigen wir ins Kanu, paddeln irgendwo hin, steigen aus und lieben uns dann dort. Das würde ich zumindest empfehlen. Kanus sind einfach zu eng für sowas!Für die Geschichte unseres Landes kann man die Bedeutung des Kanus allerdings kaum unterschätzen: Kanus haben dieses Land erst möglich gemacht. Anders hätten die ersten Siedler diese Weiten gar nicht durchqueren können.
Die Liebe zur Natur, zur Wildnis scheint bis heute ein zentrales Element des kanadischen Selbstverständnisses zu sein...
Ja. Wie viele Kanadier bin ich ein Zwitterwesen, ein Stadtbewohner mit sehr starkem Bezug zur Natur. Ich wuchs in den Wäldern auf und bin bis heute regelmäßig in der Wildnis unterwegs. Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit in unserer Blockhütte im Wald verbracht. Das Blockhaus gehört bis heute zur kanadischen Identität, vor allem in diesem Teil des Landes, in dem ich lebe.
Wie sehr hat die Weite der kanadischen Natur die Menschen geprägt?
Europäer sind besessen von Zeit, Nordamerikaner sind besessen vom Raum. Zuerst: Kanada ist ein nördliches Land. Wir haben ein Klima, das bis zu den kältesten, mörderischsten Minusgraden reicht. Ein anders prägendes Element: Wenn man von Europa nach Nordamerika geht, ist man erschlagen, wie viel Land es hier gibt. Wir Kanadier haben normalerweise keine Vorstellung davon, wie unglaublich dicht besiedelt Deutschland ist. Diese Weite hat uns Kanadier geprägt. Kanada ist das am stärksten vernetzte Land der Welt, wir haben die meisten Kommunikationswege. So ein enges Netzwerk gibt es in keinem anderen Land, weil wir geographisch so weit auseinanderleben. Auch haben wir ein anderes Verhältnis zu Entfernungen. Für uns ist es nichts ungewöhnliches, uns sieben Stunden ins Auto zu setzen, nur um zu unserer Wochenendhütte zu kommen. In Europa wäre man nach sieben Stunden schon in einem anderen Land.
Sie sind regelmäßig in Deutschland zu Besuch, Ihr deutscher Verlag sitzt in Berlin. Wenn Sie die Deutschen mit Kanadiern vergleichen, was fällt Ihnen auf?
Die Deutschen haben viel mehr Humor als ich dachte. Sie können richtig witzig sein. In Kanada sehen viele die Deutschen als humorloses Volk. Und zumindest in Süddeutschland begegnet man wirklich vielen Leuten, die ein ernstes Gesicht machen. In Berlin sollen ja die Hugenotten sehr prägend gewesen sein. Die Berliner sagen: Das ist der Grund, wieso wir so witzig und schlagfertig sind. Vielleicht ist da etwas wahres dran.
Und im Vergleich zu Kanadiern?
Nehmen wir die Berliner, die ich kenne. Das sind Leute aus der Literaturszene. Wir sitzen zusammen in der Paris Bar und rauchen - was bei uns schon nicht mehr erlaubt ist - und haben tiefe intellektuelle Diskussion über Thomas Mann und ähnliche Themen. So etwas passiert einem in Toronto eher selten, es gibt einfach nicht diese intellektuelle, kreative Szene wie in Berlin.
Sie haben mal ein Jahr in Berlin verbracht.
Ja, das ist sehr lange her. In den 70ern war ich das erste Mal da. Ich war der erste Autor, den der Verleger Arnulf Conradi veröffentlichte. Ich lebte damals in Edinburgh und fuhr nach Berlin, um mein Buch zu veröffentlichen. 1978 war das wohl. Es war Winter, es war kalt. Ich konnte mein Deutsch anwenden, das ich in der Schule und dann in der Hochschule gelernt hatte.
Wie lief es mit Ihrem Deutsch?
Als ich in Berlin ankam, war mein Deutsch ziemlich steif. Aber irgendwie hat es geklappt. Berlin war sehr gut, um die Sprache zu verbessern, denn die Berliner machen viele Wortspiele. Die schrieb ich damals alle auf, auch Wortspiele aus Anzeigen und ähnliches. Das ist immer das schwierigste: Etwas komisches in einer anderen Sprache zu verstehen.
Zum Beispiel?
Mein Lieblingswort damals war: Fußpilz. Das fand ich unglaublich komisch. Die Deutschen sagten: Wieso ist das witzig?Dann sagte ich: Bei uns heißt das "Athlete's Foot". Da lachten die über mich.
Auch später waren sie mehrmals für länger in Deutschland.
Ja, in den 80ern war ich ein paar Monate lang da. Hier, dieses Foto habe ich Ihnen mitgebracht. Es ist von 1984 und zeigt mich, wie ich in Berlin "Der Report der Magd" zu schreiben beginne. Das Apartment war vom DAAD und lag in der Helmstedter Straße im Stadtzentrum. (Vor dem Cafe, in dem wir sitzen, nimmt der Baulärm von Straßenbauarbeiten zu.)Ohweh, das wird ja immer lauter. Wir haben einen Witz darüber: Es gibt nur zwei Jahreszeiten in Kanada: Winter und Straßenreparatur. Immer wenn der Schnee schmilzt und man sich auf den Sommer freut, passiert so etwas (zeigt auf Baustelle). Wieso wir so viele Sraßenbauarbeiten haben?Weil wir so starken Frost haben. Ihr in Europa habt diese wunderschönen Autobahnen, die nie repariert werden müssen. Beneidenswert.
Wie lassen sich, abgesehen von der Geographie, die Unterschiede zwischen Ihrem und unserem Land noch erklären?
Wir in Kanada sind vom 17. direkt ins 19. Jahrhundert gekommen, weil im 18. Jahrhundert endlose Grenzkriege zwischen Großbritannien und Frankreich ausgefochten wurden. Wir hatten nie eine Periode der Aufklärung wie Ihr in Europa!Wir sind vom Puritanismus des 17. Jahrhunderts direkt in die Moderne des 19. Jahrhunderts gerutscht. Voltaire sagte einst über Kanada: Quelques arpents de neige - ein paar Morgen Schnee. Er hatte Recht.
Wirkt das bis heute nach?
Ja und nein. Die intellektuelle Tradition von Europa fehlt. Andererseits gab es her sehr hoch entwickelte Gesellschaften der Ureinwohner, die von Siedlungen bis zu Handelswegen alles hatten. Sie hatten auch sehr weit entwickelte Mythologien, es gab wunderbare Poesie und so weiter.
Welche Elemente prägen das kanadische Selbstverständnis bis heute?
Vor einigen Jahrzehnten definierte sich Kanada so: Konservativ, puritanisch, rückwärtsgewandt, sozialpolitisch rückständig, engstirnig, intolerant. Es gab zum Beispiel vor 1965 keine legale Form der Empfängnisverhütung, wenn man nicht verheiratet war. Die USA galten damals als liberal, offen, fortschrittlich. Nun ist es genau andersherum. Und Michael Moore macht einen Film in dem er darüber staunt, wie wir Kanadier es schaffen, ein kostenloses Gesundheitssystem aufrechtzuhalten.
Wie wurde Kanada so wie es heute ist?
Einerseits: Wir sind keine imperiale Macht. Und wenn man ein eher machtloses, politisch kleines Land ist, dann kümmern sich die Leute herzlich wenig darum, was man tut. So hatten wir eine andere Freiheit uns zu entwickeln. Während in den USA alles immer stärker kontrolliert und rigider wurde. Neulich war Noam Chomsky mal bei uns und beschrieb, wie eng die Grenzen der Meinungsfreiheit in den USA inzwischen sind. Darauf sagte jemand: Bei uns in Kanada kann man sagen, was man will. Darauf Chomsky: Aber es interessiert niemanden. Ich glaube er hatte Recht. Es gab bei uns mal eine Zeit, da wollten die Menschen, dass Kanada wie die USA wären, das Land der Freien. Raten Sie mal, welches jetzt das Land ist, das bei Einwanderern am beliebtesten ist?Kanada. Wer hätte das je gedacht?Früher kamen Immigranten nur nach Kanada, weil sie von hier in die USA wollten.
Was bedeutet der Status eines Einwanderungslandes für die kanadische Identität?
Es ist ein sehr guter Einfluss. Man achtet bei uns nicht so sehr darauf, wie die anderen Menschen aussehen oder welchen familiären oder ethnischen Hintergrund sie haben. Viel wichtiger ist, wie jemand das Leben angeht und sich im Alltag verhält. Kanadier halten die Tür offen, nachdem sie durchgegangen sind.
Wie meinen Sie das?
Hier geht man durch eine Tür und hält sie dann dem Menschen hinter sich auf, egal, ob er weiß, schwarz, gelb oder wie auch immer aussieht. Das habe ich in Deutschland nicht so erlebt. Ich sehe das als Metapher für eine Unvoreingenommenheit im Umgang miteinander. Die Kehrseite ist, dass wir sehr gemein und verletzend ehrlich sein können, wenn wir Leute nicht mögen. So wie in Michael Moores Film. Er fragte ein paar kanadische Jugendliche, was sie tun, wenn sie jemanden nicht mögen. Erschießen sie ihn?Die Kinder antworten: "Nein, wir machen uns über ihn lustig."Das kann fast genauso schlimm sein. Es ist doch kein Zufall, dass alle Kanadier, die in Hollywood Karriere gemacht haben, Komiker sind, von Jim Carrey bis Mike Myers.
Klingt nach einem netten, liebenswerten Land, in dem Sie leben.
Ja, aber das war wie gesagt nicht immer so. Ich habe noch eine Zeit erlebt, als es kein Knoblauch in Kanada gab!Die 1940er bis 1960er waren eine strenge, enge, britische Phase. Umso mehr gab es damals die verrücktesten Dinge unter der Oberfläche. Wie ich es in meinem Buch "Der Blinde Mörder" beschrieben habe. Mein Lieblingsbeispiel für jene Zeit ist Kanadas langjähriger Premierminister Mackenzie King. Damals hielt man ihn für den langweiligsten Menschen, der je auf der Erde gewandelt ist. Nachdem er starb, entdeckte man, dass er seine politischen Botschaften, nach denen er handelte, vom Geist seiner Mutter erhalten hatte, der nach seinem Glauben im Körper seines Hundes wohnte. Das ist eine wahre Geschichte, sie ist in seinen Tagebüchern festgehalten. Auch bestimmte er, dass im Parlament Entscheidungen nur getroffen werden dürfen, wenn die beiden Zeiger auf der vollen oder der halben Stunde stehen. So ließ er immer das ganze Parlament warten, bis die Zeiger richtig standen, ohne dass jemand diesen Grund wusste. So war Kanada damals: Hinter der Fassade der totale Wahnsinn.
Wo sie vorhin von Michael Moore sprachen: Er hat in letzter Zeit das öffentliche Bild Kanadas stark bestimmt...
...ja ja, "Bowling for Columbine", ich weiß. Tut mir leid, sie zu enttäuschen: Wir schließen unsere Türen ab!In seinem Film hat er nur bei Leuten angeklopft, die zu Hause waren. Kein Wunder, dass die Türen offen waren. Wenn wir das Haus verlassen, schließen wir ab, egal was Michael Moore dazu sagt!
Für viele Deutsche ist Kanada nach wie vor vor allem ein Land voller Naturreichtümer. Kulturell ist es ein gut gehütetes Geheimnis. Welche kanadischen Kulturgüter - ein Buch, eine Musik ein Gemälde - würden Sie einem Deutschen empfehlen, um sie auf eine einsame Insel mitnehmen?
Ich würde die Gesammelten Werke von Northrop Fry empfehlen, da steht alles drin, was man wissen muss, von Weltliteratur bis zu Schriften zu Kanada. Als Musik würde ich die Gesammelten Werke von Gordon Lightfoot oder Leonard Cohen mitnehmen. Die erzählen beide sehr gehaltvolle Geschichten. Vielleicht auch eine CD der "String Band". Die hatten in den 70er Jahren einen Klassiker mit dem Titel "Show me the length of your cock" - und das in einem damals so puritanischen Land wie Kanada!Als Gemälde würde ich einen von Lawren Harris Eisbergen mitnehmen. Die sehen traumhaft aus, und wenn man mal in der Arktis ist, sieht man, er hat die Eisberge wirklich so gemalt wie sie aussehen. Als ich das erste Mal da oben war, sagten alle auf dem Boot: Guck mal, die Eisberge sehen genauso aus wie bei Lawren Harris.
Das Gespräch führte Lars von Törne
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