Gesellschaftskritik: "Wir führen uns selbst"
Der Leiter des New Yorker Goethe-Instituts Christoph Bartmann im Interview über Managerismus als neue Herrschaftsform und sein Buch „Leben im Büro“.
Herr Bartmann, sind Sie der erste Sozial-Anthropologe des Büros?
Naja, das Büro ist vielleicht die einzige Welt, in der ich mich ein bisschen auskenne. Über meine Bürojahre ist in mir der Entschluss gereift, so etwas wie eine Anthropologie des Büromenschen zu versuchen. Das Faszinierende ist, dass wir in der Mittelschicht der Millionen Dienstleister – sofern wir im Besitz mobiler Endgeräte sind – fast keine Möglichkeit mehr haben, dem Zugriff und Regime des Büros zu entkommen. Mit dem Smartphone tragen wir eine Büro-Miniatur in der Tasche.
Sie schreiben von der Bürokratie, als sei sie eine neue Herrschaftsform. Sogar den Begriff „Diktatur“ verwenden Sie. Rufen Sie zur Revolution auf?
Wie sollte das aussehen? Eine Revolution gegen die neue Bürokratie wäre so sinn- und wirkungsvoll wie eine Revolution gegen Facebook. Aber man kann an Bewegungen wie Occupy sehen, dass man auch gegenüber anonymen Mächten Wut und Empörung artikulieren kann. Die neue Bürokratie, und damit meine ich die Herrschaft des IT-gestützten Managements, hat die Machtverhältnisse im Büro fundamental verschoben. Regiert wird nicht mehr von polternden Chefs, sondern von blinkenden und piepsenden Instrumenten, die angeblich das Arbeitsleben erleichtern.
Statt Verwaltung gibt es heute Management. Alles, sagen Sie, wird gemanagt, wir managen sogar unsere Person wie ein Projekt – ist man dabei autonomer als früher?
Nichts gegen Management, solange es bedeutet, Dinge erfolgreich zu regeln. Und richtig: Wir sind als Manager im Büro autonomer als zuvor. Zugleich sind wir auch abhängiger: vom Computer, von Formularen, Verträgen, Zielvereinbarungen, Experten, Beratern. Mit Foucault nenne ich dieses System „Selbst-Regierung“. Wir führen uns selbst – allerdings innerhalb der Regelwerke moderner Managementlehren, die wir nicht selbst gemacht, nicht diskutiert haben. Ein Ausgang ist nicht vorgesehen, es gilt als „alternativlos“. Der moderne Büroteilnehmer leidet nun nicht wie ein Sklave, aber es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass er deshalb freier wäre als unter dem alten Regime der Verwaltung. Heute herrscht das „Betriebssystem“.
Dagegen kann es kein Aufbegehren geben, keine echte Opposition. Sitzen wir in der Büro-Falle?
Begriffe wie Herrschaft oder Regime sind dafür durchaus angemessen. Ich empfinde das zeitgenössische Büro in Teilen als „postdemokratisch“, um einen Ausdruck von Colin Crouch zu verwenden. Zwar darf und soll jederzeit über alles diskutiert werden, die Verfasstheit des Büros selbst steht aber niemals zur Diskussion. Sie ist eine Setzung. Doch anders als eine politische Verfassung ist sie kein Produkt eines allgemeinen Willens, sondern eines von Business-Schools und Governance-Schools. Natürlich kann man sich trotz allem im Büro gut fühlen, aber ich mache mir Sorgen, dass unsere demokratische Intuition im Büro sanft eingeschläfert wird – wir nehmen täglich das Gegebene hin, gesellschaftliche Vorstellungskraft versiegt.
Wer oder was sind die von Ihnen beschriebenen neuen Büro-Typen wie Outperformer, Business-Punk, Charismatiker?
Das Büro gibt vielen Arbeit, nicht nur denen, die darin sitzen, sondern auch denen, die Büroarbeitern bei der Arbeit zur Seite stehen: Coaches, Evaluatoren, Therapeuten, Workshopanbieter. All diese Sozialtypen und deren Psychodynamik – die man als Charismatiker, Punks und so weiter erkennen kann – sind relativ neu. Unter einem Outperformer versteht man jemanden, der andere in den Schatten stellt, ein Business-Punk ist der kreative Chaot, der irre viel zustande bringt.
Die neue Bürokratie besteht aus der Ideologie des Bürokratie-Abbaus
Seit wann gibt es diese Typen auch im öffentlichen Dienst?
Seit die Regeln der Business-Sphäre die öffentlichen Verwaltungen erfasst haben. Seitdem hat sich der Beruf des Managers universalisiert – irgendwas managen wir ja alle, und sei es ein privater Haushalt. Das hat die alte ständische oder nach Zünften organisierte Auffassung vom Beruf zunehmend verdrängt und aufgelöst. Evaluator – das ist heute ein Beruf, Change Manager auch, oder Controller. Davor dominierte der Corporation Man, das war jemand, der zeitlebens bei derselben Firma arbeitete und ihrer Kultur bis in sein Privatleben hinein verpflichtet war. Denken Sie an Baxter in Billy Wilders satirischem Bürofilm „Das Apartment“ von 1960: Er leiht seine Wohnung Vorgesetzten und Kollegen, die dort ihre Liebschaften treffen. In gewisser Weise war der Corporation Man auch ein Mitläufer. Das machte ihn in den Augen der späteren, gern ein bisschen anarchoiden Managementideale zum Auslaufmodell.
Der Corporation Man war ein unbeweglicher Typ, ein „Change-Legastheniker“, wie man bei Ihnen liest.
Der Corporation Man hatte etwas von einem Nerd, er war fachlich auf der Höhe, aber sozial und kommunikativ unbeweglich. Es gab in den USA um 1960 Soziologen, die besorgt waren, weil der Corporation Man zur übergroßen Anpassung neigte – das war unmittelbar vor den großen kulturellen Umwälzungen. Der Corporation Man ging nicht demonstrieren. Wir heutigen Angestellten haben nichts mehr von diesem Typus. Wir sind angepasst und unangepasst zugleich. Wir leisten uns eigene Meinungen, aber ohne dass wir die Regelsysteme der Arbeitsorganisation in Frage stellen. Die neue Bürokratie trägt Züge einer Erweckungsbewegung, sie glaubt an Kompetenz, Motivation, Veränderung, anders gesagt: an Wunder.
Ununterbrochen soll optimiert werden, eingespart, reformiert, Sie sagen, die neue Bürokratie besteht aus der Ideologie des Bürokratie-Abbaus.
Und der löst dauernd neue Bürokratiewellen aus – überall ist das zu beobachten, an Krankenhäusern, Universitäten, in Haftanstalten, Behörden, Ämtern, Job-Centern, im Regierungsapparat. Man wollte den Bürokratismus der alten Verwaltungen überwinden, aber inzwischen lässt das Wort Bürokratieabbau an Satire denken – oder an Edmund Stoiber, der in Brüssel dafür zuständig sein soll.
Vor welcher Reform stehen wir heute?
Ich nenne den heutigen Managerismus das höchste Stadium der Bürokratie. Was wir bräuchten, wäre ein Rückbau unserer zwangsmanagerisierten Verwaltungen nach vernünftigen, pragmatischen Regeln, die dafür sorgen, dass unsere Arbeit nicht unter einem Berg von Formatierungspflichten verschwindet. Kafka finde ich in dem Kontext interessant, weil er als erster die Logik des „Prozesses“ beschrieben hat: Da ist etwas, das nie aufhört, worin es nie zu einem Urteil kommen darf, weil alle Prozesse – zum Beispiel das „lebenslange Lernen“ – erst im Jenseits ein Ende finden.
Ihr Buch ist trotz allem mit Schwung, Witz und Furor verfasst.
Feldforschung im Büro könnte ein neues Genre der empirischen Sozialwissenschaft werden, und ich wäre dafür, dass mehr soziologische und kulturkritische Bücher von Leuten verfasst werden, die außerhalb der Universität arbeiten. Es gibt Büro-Bücher, die auf Selbsterfahrung und teilnehmender Beobachtung fußen. Ich weiß nicht, wie Niklas Luhmann solche Blicke auf uns selbst diagnostiziert hätte, er war ja der Ansicht, die Gesellschaft könne sich nicht selbst beobachten. Ich sehe jedenfalls keinen anderen Weg, sich über Mechanismen unseres Arbeitslebens klarer zu werden. Schauen wir von außen auf das Büro wie Ethnologen auf eine exotische Siedlung.
Das Interview führte Caroline Fetscher.
Christoph Bartmann, 56, leitet des Goethe-Institut New York. Jetzt erscheint sein Buch „Leben im Büro. Die schöne, neue Welt der Angestellten“. Hanser Verlag, München, 320 S., 18,90 €.
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