Kultur: Wir fuhren nach Süden und hörten Rock ’n’ Roll
Wolf Wondratschek, Deutschlands erster Pop-Poet, wird 70. Und zum Geburtstag erscheint sein neuer Roman „Mittwoch“.
Der Anfang wurde gleich zum Fanal. Im berühmten Jahr 1968 war’s, als die Stadt Darmstadt, in der deutsche Autoren im Namen Georg Büchners ihre höchste Auszeichnung erfahren, den begehrten „Leonce und Lena Preis“ für Nachwuchslyrik stiftete. Und der erste Preisträger wurde für dieses Ein-Satz-Gedicht gekürt: „Als Alfred Jarry merkte, dass seine Mutter eine Jungfrau war, bestieg er sein Fahrrad.“ Das hatte Wolf Wondratschek verfasst, kaum 25 Jahre alt und freier Autor in München-Schwabing.
Zwei Jahre später hat er dann noch den Hörspielpreis der Kriegsblinden erhalten, aber danach drehte sich das mit Prämien und Stipendien so reich bedachte Literaturkarussell vorbei an Wolf Wondratschek. Der wollte ohnedies lieber ein Außenseiter sein. Und wurde: Deutschlands erster Pop-Poet. Als Vorbilder galten ihm die Amerikaner, William S. Bourroughs, Allen Ginsberg oder Frank O’Hara. Von seinen deutschsprachigen Zeitgenossen war ihm vom Ernst, Witz und Sound her allenfalls der früh verstorbene Rolf Dieter Dieter Brinkmann nah.
Seine ersten Bücher, die noch in der legendären Gelben Reihe bei Hanser erschienen, hießen: „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde“. Oder „Ein Bauer zeugt mit der Bäuerin einen Bauernjungen, der unbedingt Knecht werden will“. Nur Peter Handke fielen damals so auratische, so schnell sprichwörtliche Titel ein. Wondratscheks Clou und Coup aber wurde sein Ausscheren aus dem üblichen Verlagsbetrieb. Ab 1974 erschienen seine Gedichte als broschierte Hefte neben Platten und bunter, preiswerter Alternativliteratur beim Versand „Zweitausendeins“. Ein bombiger Erfolg, WW, der kaum öffentlich auftrat, avancierte zum stillen Star einer von seiner Lyrik wie sonst von Popsongs bewegten Jugendkultur. Allein der Gedichtband „Chuck’s Zimmer“ wurde so 300 000 Mal verkauft.
Wondratscheks Ton war scheinbar kunstlos, entspannt, irgendwie groovy oder neudeutscher: cool. „Wir waren ruhig / hockten in den alten Autos / drehten am Radio / und suchten die Straße / nach Süden“; denn „Man möchte leben können vom Atmen, den alten Filmen / vom Rock ’n’ Roll.“ That’s all.
Wolf Wondratschek, ein Bewunderer auch der französischen Bohème zwischen Rimbaud-Wildheit, philosophischem Existenzialismus und frühen Godard-Filmen, er segelte so vom Alltag zum Sonntag, von der Romantik zum Trivialen. Ein Tänzer allemal auf dem Grat zwischen E- und U-Kultur. Ein Irrlicht manchmal auch zwischen Kitsch und Kunst.
Doch wer will entscheiden, was da was ist, wenn er über existenziell gefährdete oder rätselhafte Frauen Zeilen feuert, als kämen sie aus dem heißkalten Lauf eines Raymond Chandler: „Blond wie das Heimweh aus Deutschland. Und die / Finger gespreizt, als seien es zehn zerrissene Rosen. / ... Als habe es unter dieser Haut gerade geschneit.“
Man denkt da auch an Fassbinder. Oder an Eichinger. Bernd Eichinger, dem so romantischen wie geschäftstüchtigen Filmemacher, hatte Wondratscheks Gedichtzyklus „Carmen oder bin ich das Arschloch der achtziger Jahre“ so gut gefallen, dass er seinen Chauffeur einen Haufen Geldscheine holen ließ und dem Dichter abends beim Italiener den Text abkaufte. Bei Diogenes ist „Carmen“ dann 1986 mit dem Zusatz erschienen „Aus dem Privatbesitz von Bernd Eichinger“. Worauf Eichinger dann Helmut Dietls „Rossini“ produzierte, und die Dichterfigur, die Jan Josef Liefers spielte, war für Szenekenner der Autor Wolf W.
Ein Szeneautor als Außenseiter? Wondratschek gelang das Kunststück, tatsächlich beides zu sein. Er schrieb die Auftragsbiografie eines Bordellkönigs, lebte eine Zeitlang an der Hamburger Reeperbahn, war ein Boxfan (wie Brecht), und Henry Maske trug ein W.-Gedicht auf seinem Mantel vorm Kampf. Gleichzeitig vertonte ein Feingeist wie der Komponist Wolfgang Rihm für die Salzburger Festspiele ein Requiem Wondratscheks.
Der in Karlsruhe Aufgewachsene, der heute zumeist in Wien lebt und persönlich ein nachdenklicher, eher schwerblütiger, nie schnellzüngig formulierender Mann ist, er ist längst entfernt, befreit von allem alten, jungen Zirkus. Obwohl er den Geruch des wahren Zirkus liebt. Am heutigen Mittwoch wird er nun 70, und „Mittwoch“ heißt sein eben erschienener neuer Roman (Jung und Jung Verlag, Salzburg, 243 Seiten, 22 Euro).
Keine Icherzählung, schon gar keine (verbrämte) Selbstfeier. Aber eine Anspielung. Schon in seiner schönen Vater-Sohn-Geschichte „Das Geschenk“ gab es vor zwei Jahren eine innere Referenz. In der Sammlung „Chuck’s Zimmer“ hatte es ja vor 40 Jahren geheißen: „Chuck, der sein Kind liebt, / das nie zur Welt kommen wird.“ Der auch im realen Leben späte Vater Wolf Wondratschek hat das am Ende seines „Geschenks“ variiert. Die Vaterfigur Chuck empfindet: „Das Leben, das sich vor ihm versteckt hatte, war zu ihm zurückgekehrt.“
„Mittwoch“ spielt nun die Reise nach, die ein Hundert-Euro-Schein während eines Tages macht, in dem sie bei wechselnden Personen und so in wechselvollen Geschichten landet. Das erinnert Wondratschek-Liebhaber an seinen großartigen kleinen Roman „Mara“, der vor zehn Jahren das Schicksal eines von Hand zu Hand und Generation zu Generation weitergereichten Cellos als Kunst- und Künstlergeschichte erzählt. Künstler spielen jetzt in „Mittwoch“ weniger eine Rolle. Eher nur Überlebenskünstler, vom Friseur, der Aushilfsnutte bis zum Tabakhändler, in dessen Begebenheiten sich auch die aussterbende Kultur des Rauchens melancholisch ironisch bricht. „Das waren noch Zeiten, als man für alles zu jung war. Kurze Hosen – aber qualmen wie Filmstars.“
Das ist er wieder, dieser unverwechselbare Wondratschek-Sound. Zwei Sätze Prosa, eine halbe Erzählung, ein ganzes Gedicht. Oder das mit aphoristischer Lakonie: „In den Western war es die Sonne, der man nicht entrinnen konnte, in Gangsterfilmen die Nacht.“ Alte Klasse. Peter von Becker
Peter von Becker
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