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Geister der Vergangenheit. Ausschnitt aus Farmers Arbeit „Boneyard“, die im Schinkel Pavillon zu sehen ist.
©  Jean Vong

Geoffrey Farmer bei der Berlin Art Week: Wimmelbild und Welttheater

Der Kanadier Geoffrey Farmer arrangiert Fotografien in witzigen, absurden und schockierenden Konstellationen. Eine Ausstellung im Schinkel Pavillon präsentiert sein Bilderuniversum. Eine Begegnung.

Die Karten sind gelegt. Das Universum wird neu gemischt. Wie ein kleiner Gott sortiert Geoffrey Farmer seine Miniatur-Skulpturen auf dem runden Podest im Gewölbe der Schinkel Klause. Dabei lässt der Künstler dem Zufall viel Raum, legt die Karo-Sieben und wählt danach die Position einer Figur. „Boneyard“ war schon einmal in Boston zu sehen, für Berlin aber ist dieses Welttheater als Wimmelbild völlig neu aufgebaut.

Geoffrey Farmer, 1967 in Vancouver geboren, vertritt sein Land gerade bei der Biennale von Venedig. Seit seiner Teilnahme an der Documenta 13 gehört er zu den wichtigsten Künstlern Kanadas. In Kassel zeigte er „Leaves of Grass“ in der Neuen Galerie. Für die Arbeit, die nach einem Gedicht von Walt Whitman benannt ist, hatte er Tausende von Fotos aus dem „Life Magazin“ ausgeschnitten und an Grashalmen befestigt. So entstanden winzige Skulpturen – ein visuelles Gedicht.

Italiens Geister der Vergangenheit erstehen auf

Für „Boneyard“ im Schinkel Pavillon hat Geoffrey Farmer Bildbände zur Geschichte der Skulptur ausgeweidet. Ein ehemaliger Professor hatte ihm die Bücher in vier großen Kisten geschickt. Der Künstler schnitt die über tausend Abbildungen aus und montierte sie auf ein leichtes Gestell. „Bilder freisetzen“, nennt Farmer diesen Prozess. Jetzt kann er die Fotos wie Figuren auf seinem Weltenrund herumschieben. In immer neuen Konstellationen erzählen sie von der Kunstgeschichte, aber auch von ihren eigenen Abenteuern. Löwen ruhen in Gruppen, Heilige erschrecken vor der Stele von Brancusi, ein Junge trauert um seine Mutter. Wie ein Alien strahlt ein grüner Käfer von Hieronymus Bosch aus der Menge, ein Außenseiter. Ein paar Bände handelten auch von Malerei.

Herausgegeben haben die Bildbände die italienischen Verleger Fratelli Fabbri. Die drei Brüder publizierten in den 60er Jahren die beliebtesten Kinder-Enzyklopädien Italiens. Giovanni Fabbri geriet später ins Visier der Roten Brigaden. In „Boneyard“, dem Friedhof, will Farmer auch die Geschichte des Verlagshauses und der politischen Radikalisierung in Italien ausgraben. Die Geister der Vergangenheit erstehen als Winzlinge auf.

Er sammelt nicht nur Fotos, sondern auch Besen

Mit seiner blonden Tolle sieht Geoffrey Farmer deutlich jünger aus als fünfzig Jahre. Zurzeit lebt er auf Hawaii, überlegt aber nach Berlin umzusiedeln oder nach Los Angeles. In Vancouver schießen die Immobilienpreise gerade in die Höhe. Im Gespräch erinnert der Künstler an eine der Figuren bei Patricia Highsmith, die ihre Obsessionen hinter äußerer Unscheinbarkeit verbergen.

Zu Geoffrey Farmers Leidenschaften gehört sicherlich das Sammeln. Er sammelt nicht nur Fotos, sondern auch Besen. Er kehre gern, sagt der Künstler. Seine Vorfahren kamen einst aus Schottland nach Kanada und bauten sich mit Putzen eine Existenz auf. Er selbst hat meist eine Art Hockeytasche dabei, für den Fall, dass er wieder einen Besen entdeckt. Manchmal tauscht er alte Besen gegen neue. Auf diese Weise ist eine Kollektion von 250 Fegern entstanden. Farmer will ein Buch über Besen schreiben, über ihre Vielseitigkeit und ihre Perfektion.

Seine Werke erinnern an Fischli/Weiss oder Hans-Peter Feldmann

Auch an seinem ersten Vorbild, an Mike Kelley, bewunderte er den Sammler. Kelley sammelte Alltagsgegenstände, wie verbogene Kleiderbügel, Harems nannte er die Objektgruppen. Farmer begegnete Kelley, als er ein Jahr in San Francisco studierte. Damals traf er auch Allan Kaprow, Tony Oursler, Kathy Acker, selbst John Cage lief ihm an der Westküste über den Weg. Seine „befreiten Bilder“ erinnern allerdings eher an die absurden Objekte des Schweizer Künstlerduos Fischli/Weiss oder an die magischen Schattenspiele von Hans-Peter Feldmann.

Für seine zweite Arbeit im Schinkel Pavillon hat Geoffrey Farmer ein analoges Bildarchiv leer gefegt. Die Ausschnittsammlung war nach Motiven geordnet und stand nach der Digitalisierung zur Verfügung. Wieder spielt der Zufall der Geschichte in die Hand. Der Künstler speiste 17 000 Fotos aus dem Archiv in seinen Computer. Speicherte dann Klangschnipsel aus einem Soundarchiv ab. Jetzt mischt der Algorithmus Dias und Töne nach seinen eigenen Gesetzen.

Die Diashow als Quelle immer neuer Geschichten

Manchmal ist das urkomisch, da fügen sich die Einzelbilder wie im Slapstick zusammen, dann wieder stockt der Atem. Mal sind Füße zu sehen, in Gummistiefeln oder Taucherflossen, dazu quietscht ganz unpassend eine Tür. Zwischendurch aber erscheinen Fotos von Massengräbern auf der Leinwand. Aus den Lautsprechern erklingt die berühmte Rede Patrick Henrys, der 1775 zum Unabhängigkeitskampf der amerikanischen Kolonien aufrief.

Die Kompilation vergegenwärtigt, welche Bilderflut mit der Fotografie über das kollektive Gedächtnis hereingebrochen ist. Farmer versteht die Diashow als Quelle, aus der immer neue Geschichten sprudeln. Gebannt beobachtet man die absurden Szenen, die der Zufall liefert. Der Titel „Look in my face, my name is Might-have-been ...“ zitiert ein Gedicht von Dante Gabriel Rossetti. Wehmütig beklagt der Präraffaelit seine verpassten Chancen. Geoffrey Farmer aber verwandelt die Versäumnisse der Vergangenheit in neue Möglichkeiten.

bis 14.11., Schinkel Pavillon, Oberwallstr. 1, Do–So 12–18 Uhr. Mehr zur Art Week finden Sie auch im neuen Tagesspiegel-Magazin „Kunst Berlin“ (12,80 Euro).

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