28. Europäischer Filmpreis in Berlin - die Bilanz: Willkommen in der Alten Welt
Sorge um den Kontinent und Lob für Lebenswerke: Die 28. Europäische Filmpreis-Gala in Berlin war mindestens so politisch wie kulturell.
Noch letztes Jahr, da war sie frisch zur Vorstandsvorsitzenden der Europäischen Filmakademie (EFA) gewählt worden, dachte Agnieszka Holland ganz anders. Eine „politische Institution“ wolle und werde die EFA nie und nimmer werden, bekräftigte sie vor der Verleihung der Europäischen Filmpreise in Riga. Aber, so schreibt sie nun in der zur Preisgala am Sonnabend in Berlin verteilten Broschüre, sei das mittlerweile bloß pures Wunschdenken – denn „wie können wir ignorieren, was um uns herum geschieht“?
Tatsächlich verändert sich der Kontinent, der dem 1988 im noch ummauerten West-Berlin gegründete Verbund von mittlerweile über 3300 Filmkünstlern seinen Namen gibt, derzeit dramatisch. Und die Sorge um Europas Demokratien, um die Zukunft seiner zivilisatorischen Werte, ja, um unsere kulturelle Heimat überhaupt erweist sich als Leitmotiv der Gala im Haus der Berliner Festspiele. Während EFA-Präsident Wim Wenders eher abstrakt die Verantwortung beschwört, „in Zeiten wie diesen die Stimme zu erheben“, wird die Polin Agnieszka Holland vor den rund 1000 Gästen unmissverständlich konkret: „Einen Teil meines Lebens habe ich unter totalitären Regimes gelebt. Ich will nicht, dass sie zurückkehren.“
Es ist der Tag, an dem in Warschau 50 000 Menschen gegen die neue Regierung demonstrieren, die sich anschickt, ungarische Verhältnisse auch in Polen herzustellen. Und es ist der Tag vor der Stichwahl zu den französischen Regionalwahlen, bei denen ausgerechnet die Rechtsextremistin Marine Le Pen ihre Machtbasis ausbaut – in einem Land, das zugleich seine historischen Freiheits-, Gleichheits- und Brüderlichkeitswerte gegen terroristische Anschläge hochzuhalten sucht. Da rührt es in verschiedener Hinsicht an, wenn der Schauspieler Burghart Klaußner bei der Gala mit zart schütter werdender Stimme Charles Trenets Chanson „La douce France“ intoniert – eine Liebeserklärung an das Land, das der Sänger „im Herzen bewahrt / ob in der Freude oder im Schmerz“.
Alles Ernsthafte hängt mit allem zusammen an diesem Abend, der sich, so unvermutet wie überzeugend, in eine politischkulturelle Demonstration verwandelt. Und auch das scheinbar Allerfernste ist dabei verblüffend nah. So erhält die junge, an der Pariser Femis-Filmschule ausgebildete Türkin Deniz Gamze Ergüven den Nachwuchspreis für ihr Regiedebüt „Mustang“, in dem fünf rebellische Geschwistermädchen in der Gegend von Trabzon, an der Schwarzmeerküste kaum 100 Kilometer vor der Grenze zu Georgien gelegen, eisern auf Verheiratungsrituale und dienende Frauenrollen vorbereitet werden. Der mit Frankreich und Deutschland koproduzierte Film ist auf der EFA-Gala nicht nur deshalb zu Hause, weil die Akademie die Türkei wegen ihres europäischen Teils ohnehin zu ihren Mitgliedsländern zählt. Sondern es geht in dem familienstrukturell so finsteren und zugleich schmerzhaft sonnendurchglühten Film (Kinostart: 3. März) um Konflikte, wie sie auch in vielen muslimischen Haushalten in Mitteleuropa ausgefochten werden.
Mehr noch: Die 37-jährige Filmemacherin widmet ihren Preis explizit dem seit zweieinhalb Wochen inhaftierten Chefredakteur von „Cumhuriyet“, Can Dündar. Weil seine Zeitung aufdeckte, dass der türkische Geheimdienst in Lebensmittel-Lastwagen illegal Waffen an den IS lieferte, hat Staatschef Erdogan persönlich Strafanzeige gegen Dündar erstattet und wünscht ihm lebenslange Haft an den Hals. Politische Beobachter vermuten nun, dass dem Journalisten, dem Spionage und Propaganda für eine terroristische Vereinigung vorgeworfen werden, nach längerer Untersuchungshaft ein ähnliches Schicksal droht wie dem ukrainischen Filmemacher und Maidan-Aktivisten Oleg Senzow, der vom russischen Geheimdienst verhaftete worden war. Senzows Berufung gegen eine im Sommer verhängte 20-jährige Haftstrafe wurde unlängst von einem russischen Gericht abgewiesen.
Unter großem Applaus verliest dann Daniel Brühl auf der sinnvoll schmucklos ausgerichteten Gala eine Solidaritätsadresse für Senzow – und so fügt sich auch dieses Element in ein Bild, in dem sich das Kämpferische und das Künstlerische immer wieder scharf ergänzen. Natürlich gibt es an diesem Abend auch herkömmlichere europäische Glückserfahrungen. Etwa wenn der in London und Paris lebende Pole Pawel Pawlikowski, der letztes Jahr mit „Ida“ den Europäischen Filmpreis gewann, die nominierten Regisseure so kenntnisreich und differenziert lobt, dass sich hernach auch die Verlierer fundamental getröstet fühlen dürften. Oder wenn der Schwede Roy Andersson den Preis für die beste Komödie mit geradezu kindlicher Freude entgegennimmt – in seiner Heimat Schweden halte man seine alltags- und kolonialismuskritische Groteske „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ bloß für eine düstere Dystopie.
Ansonsten lässt sich mit einigem Recht beklagen, dass die ohnehin oft altmeisterzentrierte Veranstaltung diesmal besonders seniorentauglich ausfällt. Der große Gewinner Paolo Sorrentino, von den europäischen Kollegen erwartungsgemäß entschädigt für die Ignoranz der diesjährigen Cannes-Jury, mag zwar erst 45 sein, aber „Ewige Jugend“, nach „La grande bellezza“ sein zweiter EFA-Triumph binnen zwei Jahren, handelt nun mal vornehmlich von zwei alten Künstlern. Und Hauptdarsteller Michael Caine (82) holte gleich zwei Preise, ebenso die 69-jährige Charlotte Rampling, ebenfalls fürs Lebenswerk sowie für ihre Rolle in „45 Years“ – da mag sie noch so sehr wie jemand wirken, der nicht im 70. Lebensjahr steht.
Dass Europa dabei in Sachen Film nicht durchweg „Alte Welt“ ist, bewies etwa der dreimal nominierte „Victoria“, nur geht Sebastian Schippers imposantes Berliner One-Take-Abenteuer leer aus. Andererseits, nach den sechs Deutschen Filmpreisen im Sommer nun noch Europa-Glanz obendrauf? Das wäre denn doch ein bisschen viel des lokalpatriotischen Vergnügens gewesen.
Wenn etwas allerdings massiv störte an dieser 28. Europäischen Filmpreis-Gala, dann ist es die wenig ansteckende Aufgekratztheit des Moderators Thomas „Quatsch Comedy Club“ Hermanns. Gänzlich unberührt von dem anrührenden verbindlichen Ton, zu dem die Veranstaltung immer wieder zusammenfindet, spult er seine eher uninspirierten Scherz-Intermezzi herunter – und macht damit einmal mehr den Verlust von Anke Engelke deutlich, die jahrelang mit Intelligenz, Tempo, Verve und vor allem Originalität durch die Gala-Abende führte. Aber wie wichtig sind derlei Einwände derzeit, welchen Luxus bedeutet es, sie überhaupt zu formulieren?
Irgendwann, als die Gruppenfotos der Gewinner auf der Bühne längst im Kasten sind, gehen die Preisträger in kleinen Grüppchen noch mal bei der in einem kahlen Nebenraum versammelten internationalen Presse vorbei. Sir Michael Caine hält auf seine unnachahmliche Weise wohlgelaunt und Anekdoten verbreitend Hof, und schon nimmt sein Regisseur neben ihm auf schwarzem Plastikstühlchen Platz. Paolo Sorrentino ist ein fraglos großer Filmemacher, aber ein grundsätzlich unwilliger Redner, und so macht er es auch hier ganz besonders kurz. Um das „Begreifen der Freiheit, die wir haben“, gehe es in seinem Film „Ewige Jugend“, sagt er. Und darum gehe es auch in Europa.
Letzteres ist unbestritten. Über Ersteres könnte man nachdenken, nach einem erneuten Kinobesuch. Schadet nie.
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