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Genie mit vielen Gesichtern. Eine Vitrine mit Goethe-Büsten in der neuen Dauerausstellung „Lebensfluten – Tatensturm“ im Weimarer Nationalmuseum. Foto: Martin Schutt, dpa
© dpa

Goethe-Nationalmuseum Weimar: Willkommen im Lebensbergwerk

Das Goethe-Nationalmuseum Weimar eröffnet seine neue Dauerausstellung. Sie trägt den Titel "Lebensfluten - Tatensturm" und verpasst dem Klassiker ein mediales Update. Zur Feier des Tages wurden außerdem Goethe-Medaillen verliehen. Einer der Preisträger ist der kürzlich noch inhaftierte Theaterregisseur Bolat Atabayev aus Kasachstan.

Der Geheimrat ist im Zeitalter des Smartphones angekommen. Besucher des Goethe-Nationalmuseums können mit einem Medienguide durch die neue Dauerausstellung wandern und klicken, drehen, schieben, wie mit dem Handy. Das Gerät dient der Orientierung und Information, es erlaubt zudem, Texte von und über Goethe abzurufen. Es ist eine Art erweiterter Speicher einer Präsentation, die auf gerade einmal 800 Quadratmetern ein Maximum an Exponaten zeigen will, ohne überladen zu wirken und in einem Wald von Schildern zu versinken. Goethe hinterließ reichlich 15 000 Briefe, noch größer ist die Zahl der Kunstobjekte und Naturalien, die er gesammelt hat, seine Bibliothek umfasste 7000 Bände – in ein solches Lebensbergwerk kann man nur flott hinein- und wieder herausfahren. Oder sich mit digitaler Technologie befreien: Im Treppenhaus zwischen den beiden Etagen der Goethe-Schau ist eine Galerie installiert, mit sämtlichen Substantiven aus dem „Faust“ – es sind Zigtausende, die man einzeln aufrufen kann. Sogleich erscheinen auf Schriftbändern die entsprechenden Verse, es ertönt ein weich-esoterischer Jingle.

„Lebensfluten – Tatensturm“ nennt sich die Ausstellung, das Museum auf Zeit, wiederum nach einer Stelle aus dem „Faust“. Da spricht der Erdgeist: „Wall’ ich auf und ab/Webe hin und her!“ Chronologisch geht es in diesen biografischen Skizzen nicht zu, mehr als Schlaglichter können die Kabinette auch nicht sein, die sich durch die Räume schlängeln. Sieben Leitbegriffe sind angezeigt: Genie, Gewalt, Welt, Liebe, Kunst, Natur, Erinnerung. Alles und nichts also. Gleich beim Eintritt springen einem bunt bestickte Hosenträger ins Auge, so etwas trug man damals in höfischen Kreisen. Ein paar Ecken und Vitrinen weiter stehen Goethes Lederstiefel, man entdeckt seinen Pass für Rom auf der italienischen Reise und die „Römischen Elegien“, Dokument seiner sexuellen Befreiung. Einen eigenen Auftritt in diesem Kabinett der Kuriositäten hat Goethes Erotica-Sammlung. Vielleicht hätte man die Todesanzeige und den Schlüssel zu seinem Sarg neben die kopulierenden Götter und Menschlein platzieren, ein bisschen Drama inszenieren können. So hat der Rundgang etwas Braves, Geordnetes, die „Lebensfluten“ sind gebändigt und vom Tageslicht geschützt, aus konservatorischen Gründen. Das Halbdunkel schafft mit an der feierlichen Atmosphäre.

Man ist hier nun einmal in einem Dichterhaus, und es gibt nichts Schwierigeres, als Literatur auszustellen. Damit fängt es an, da endet es immer – beim Nationaldichter, mag er noch so schöne Vogelskelette, und Mineralien gesammelt haben. Drüben im eigentlichen Wohnhaus Goethes lassen sich seine Lebensverhältnisse anschaulich betrachten, wenn es nicht zu eng wird. Mehr als 150 000 Besucher jährlich kann die Wohnung am Frauenplan nicht bewältigen, und für die neue Ausstellung erhofft sich die Klassik Stiftung Weimar ein ähnlich großes Interesse. Sie ist Entlastung und Ergänzung für Goethes Heim. Und bei aller Welthaltigkeit, die in die „Lebensfluten“ und den „Tatensturm“ eingegangen sein sollen, geben jene Räume doch am meisten her, die sich direkt mit Goethe befassen. Mit dem Politiker und Verwaltungsmann, dem Vertreter der Staatsgewalt im kleinen Weimarer Fürstentum – und mit dem Schriftsteller.

Eine Reihe von Schreibwerkzeugen ist zu besichtigen. Man kann sich gut vorstellen, dass er mit dem Bleistift schrieb. Die Feder kratzte zu arg und musste immer mit Tinte getränkt werden. Die Bleistiftmanuskripte ließ er dann mit Tinte abschreiben, und schon früh ist er auch zum Diktieren übergegangen. Auf welchen – unbequemen – Möbeln er saß und schrieb, lässt sich im hübschen Begleitbuch nachlesen.

Nicht unbedingt an Spezialisten richtet sich die Ausstellung, vielmehr soll sie sich dem Publikum öffnen. Da kann es leicht passieren, dass es für den Goethe-Kenner zu wenig und für Schulklassen zu viel zu entdecken gibt. Zehn Jahre soll das Arrangement Bestand haben, die Kosten belaufen sich auf gut drei Millionen Euro. Es ist das vorsichtige Update eines Nationalmuseums, doch irgendwie bekommt man den Dichterhelden wieder nicht wirklich zu fassen. Neuerdings spricht die Klassik Stiftung vom „Kosmos Weimar“, und darin ist selbst der Fixstern Goethe nicht alles. Auch das Schiller-Museum könnte in den nächsten Jahren überarbeitet werden, ein neues Bauhaus-Museum 2015 fertig sein. Nietzsche gehört zu diesem Kosmos ebenso wie Franz Liszt, dem Robert Wilson jetzt beim Festival „Pelerinages“ in der großen Viehauktionshalle eine Installation widmet, „Via Crucis“. Und Buchenwald gehört dazu, das ehemalige Konzentrationslager.

Zu Goethes 263. Geburtstag am Dienstag hat das Nationalmuseum mit frisch gestaltetem Eingangsbereich wieder eröffnet. Auch das Goethe-Institut war da, um zu feiern. Am 28. August verleiht es jedes Jahr im Weimarer Schloss die Goethe-Medaillen, eine Auszeichnung für Künstler, Literaten, Übersetzer, Kulturvermittler, die sich in ihren Ländern um die deutsche Sprache und Kultur verdient machen. Das klingt etwas altmodisch, aber der Eindruck täuscht. Die Festtage in Weimar haben sich zuletzt stark politisiert, engagierte Persönlichkeiten wurden mit der Medaille geehrt. Wer zur Verleihung nach Weimar reist, kommt in eine Puppenstube – und zugleich an einen Ort der Globalisierung. Goethe holte sich nach Weimar so viel Welt, wie er wollte. Er konnte das aber auch ausblenden. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Wenige Wochen ist es erst her, dass der kasachische Theaterregisseur Bolat Atabayev aus dreiwöchiger Haft entlassen wurde. Er wurde aus seiner Wohnung verschleppt und eingesperrt, weil er sich für streikende Ölarbeiter am Kaspischen Meer einsetzt. Atabayev kennt und pflegt die deutschsprachige Dramatik, hat mit Roberto Ciullis Theater an der Ruhr und mit Volker Schlöndorff gearbeitet. Demnächst will er in Almaty, der Hauptstadt Kasachstans, Brechts „Kleinbürgerhochzeit“ inszenieren.

Es besteht kein Zweifel, dass die Ankündigung, er werde im August mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet, Atabayev geholfen hat. Wunderbar, diesen witzigen, lebensvollen Mann im Gespräch mit den beiden anderen Preisträgern dieses Jahres zu erleben, der Literaturwissenschaftlerin Irena Veisaité aus Litauen und dem bosnischen Schriftsteller Dzevad Karahasan, der in den neunziger Jahren in Berlin gelebt hat. Am Vorabend der Preisverleihung tauschten sie sich, moderiert von Christina von Braun, im Goethe-Schiller-Archiv über Diktaturen und Kulturen, Sprachmuster und das „Körperhafte des Wortes“ aus, wie Karahasan es formuliert. Für Irena Veisaité war deutsche Dichtung ein Fenster ins Freie während der sowjetischen Besatzung. Atabayev verblüfft das Publikum mit dem Satz, er habe durch die deutsche Sprache das Protestieren gelernt, vor allem durch Schiller und das Theater des Sturm und Drang.

Klaus-Dieter Lehmann, der Präsident des Goethe-Instituts, hielt diesmal selbst die Festrede. „Kultur ist nicht eine Spielwiese der Künstler oder eine Abfolge von Events, sie bildet die Grundlage unserer Gesellschaft“, sagte er. So kennt man ihn, als nachhaltigen Pragmatiker. Seine Organisation ist zwar nicht missionarisch, doch die Goethe-Institute in „Ländern mit eingeschränkter Meinungsfreiheit und staatlichen Kontrollen“ werden als „Frei- und Dialogräume“ angeboten in Kasachstan, in den arabischen Ländern. Leider kann man solche Worte nicht oft genug wiederholen, das Schlimme ereignet sich ohne Unterlass. Lehmann lenkt die Aufmerksamkeit nach Damaskus: Dort ist am vergangenen Donnerstag der syrische Filmproduzent Orwa Nyrabia auf dem Flughafen spurlos verschwunden. Er wollte nach Kairo reisen.

Einer Wundertüte gleichen diese Medaillen-Verleihungen. Wie Irena Veisaité als Jüdin das Ghetto von Kaunas überlebt hat, wie Bolat Atabayev „Wandrers Nachtlied“ auf Kasachisch sang, hat das Publikum zu Tränen gerührt. Man versteht, was Geschichte heißt, was sie mit Menschen macht. Da nimmt man auch Martin Mosebachs kitschig-gespreizte Rede auf Karahasans Sarajewo hin und muss dabei an einen Zeitungstext denken, in dem Mosebach kürzlich über die Strafbarkeit von Blasphemie in Deutschland nachdachte, nach der Aktion der Sängerinnen von Pussy Riot in der Moskauer Kathedrale. Die Freiheit der Kunst – oder die „Kunst der Freiheit“, wie Staatsministerin Cornelia Pieper in ihrem Grußwort es so seltsam formulierte – bleibt konstant bedroht. In Weimar, dem Gründungsort der kurzlebigen Republik, die dem Nationalsozialismus vorausging, wird einem die Fragilität der Existenz schlagartig bewusst.

Infos zur Ausstellung und Tickets: www.klassik-stiftung.de

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