Kultur: Wille ist Macht
Ein Leben als Spiegel des Jahrhunderts: Der Philosoph Paul Ricoeur starb mit 92 Jahren
Denken Sie ruhig, ich sei ein anderer. Sie werden ja sehen, wie weit Sie damit kommen, hat Jacques Lacan einmal lakonisch angemerkt. Man darf annehmen, dass Lacan, der an einer anderen Stelle ausdrücklich mitteilt, er wolle Paul Ricoeur das Terrain nicht kampflos überlassen, damit auch dessen Formel vom „Das Selbst als ein anderer“ meinte. Lacans Einwände gegen Ricoeur stehen dabei exemplarisch für die Schwierigkeiten, mit denen der am Freitag im Alter von 92 Jahren in Chatenay-Malabry verstorbene Philosoph zeit seines Lebens zu kämpfen hatte. Da, wo andere die Lücken, Brüche und Einschnitte betonen, wollte Ricoeur Brücken bauen. Das missfiel gerade jenen Kollegen, die zunächst an das Werk der Zerstörung gehen wollten, das man auch Kritik nennen kann, um zum Sinn durchzudringen.
Will man Paul Ricoeurs philosophische Tätigkeit auf einen Nenner bringen, so kann man sie als eine doppelte Bewegung beschreiben. Sie nähert sich dem zu deutenden Gegenstand unterwürfig aus der klein gemachten Position langsam an. Erst wenn diese Annäherung „von unten“ geschehen ist, kann sich die „Übung des Zweifels“ anschließen und die Arbeit der Kritik beginnen.
Dass Ricoeur damit in Konflikt zum Strukturalismus Claude Levy-Strauss’, der Psychoanalyse Jacques Lacans und der Dekonstruktion Jacques Derridas geriet, versteht sich. Ricoeurs Antwort auf die Frage, was Verstehen heißt, war in dieser Hinsicht ein Ausgleichsversuch zu den Pariser Radikalen. Dabei gab es im Leben Ricoeurs durchaus Schnittmengen mit den französischen Kontrahenten.
Der 1913 im französischen Valence in ein hugenottisch-protestantisches Elternhaus hineingeborene Ricoeur wuchs nach dem frühen Tod der Eltern in der Bretagne bei einer Pflegefamilie auf. Im Lycee von Rennes wurde er von einem Freud-Spezialisten in die Philosophie eingeführt. Während des Studiums begann Ricoeur eine intensive Auseinandersetzung mit Edmund Husserl, Martin Heidegger und Karl Jaspers. In den Zwanzigern und Dreißigern verfolgte Ricouer sozialistische und pazifistische Ideen, von denen er sich nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs wieder abwandte. Früh in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, machte er sich in einem Lager in Pommern an die Übersetzung von Husserls „Ideen zu einer Reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“. Es war wohl auch die Erfahrung des Krieges in Deutschland, die Ricoeur im Unterschied zu vielen anderen französischen Denkern Abstand zu Martin Heidegger halten ließ. Mit der 1950 erschienenen Übersetzung wurde Ricoeur ein Wegbereiter der Phänomenologie in Frankreich. 1950 promovierte er an der Sorbonne mit einer Arbeit, in der er die christliche Existenzphilosophie Gabriel Marcels mit Husserls phänomenologischer Methode verknüpft. Diese Verknüpfung blieb sein Programm, das sich auch in seinem Engagement für die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen niederschlug. Dabei geriet Ricoeur selbst an die Grenzen des Brückenbaus. 1966 wechselte von der Sorbonne an die neugegründete Reform-Universität von Paris-Nanterre und wurde Dekan der philosophischen Fakultät. 1970 verließ er Nanterre entnervt wieder von den Angriffen linksradikaler Studenten und den konservativen staatlichen Eingriffen und nahm einen Ruf als Nachfolger Paul Tillichs in Chicago an. Seine Lehre von der Aufgabe der Hermeneutik als eine Dialektik von der „Dauer im Wandel“ fand in Chicago jene interessierte Zuhörerschaft, die seiner theologischen Hermeneutik in Frankreich bis dahin gefehlt hatte.
Der französische Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin würdigte Ricoeur als einen großen Humanisten. „Wir verlieren heute mehr als einen Philosophen“, erklärte er. „Die gesamte humanistische Tradition Europas trauert um einen ihrer begabtesten Sprecher.“
Cord Riechelmann
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