Architektur: Wildwuchs mit Moskitonetzen
Architekturbiennale São Paulo: Deutsche Planungswut trifft auf brasilianische Improvisationsnot. In der drittgrößten Stadt der Welt ist kein Gebäude älter als 80 Jahre. In 100 Jahren hat sich die Bevölkerung verhundertfacht. Ein Drittel der Menschen wohnt in Favelas.
Die Häuser zu eng, die Fertigteilkonstruktion von gestern: Der Wiederaufbau der Studentensiedlung im Olympischen Dorf in München sei doch sehr streitbar, findet Paulo Bruna. Wie konnten die deutschen Baunormen derart ausgehebelt werden? Nur die historische Bedeutung rechtfertige die aufwändige Rekonstruktion. Der brasilianische Architekturprofessor hält die Broschüre der Deutschen Architektenkammer hoch: „Nach Ihrer Ankündigung habe ich technologisch anspruchsvolle Architektur erwartet und nachhaltige Lösungen.“ Auch Han Slawiks schwimmendes Veranstaltungszentrum aus Containerelementen für die Hamburger IBA missfällt ihm: In Brasilien wäre dieser Luxus unmöglich, wo Stahl teurer sei als Stahlbeton.
Die deutsche Delegation erlebt ihre Überraschungen bei der 9. Architekturbiennale São Paulo. In der Stadt mit den meisten Favelas des amerikanischen Kontinents, vielleicht sogar der Welt, müssten temporäre Architekturen eigentlich gefragt sein. Die Pavillons des Olympischen Dorfes, die jeder Bewohner selbst bemalen darf, müssten ein Modell sein für Bürgerbeteiligung in Urbanisierungsprozessen. Und dann loben alle drei brasilianischen Kritiker in einer Podiumsdiskussion ausgerechnet das sich in die Nachbarschaft fügende Berliner Atelier-Wohnhaus von Arno Brandlhuber, das zuhause das Image einer Luxusfavela hat. Es sei ein Modell für lokal spezifische Stadtplanung anstelle der Masterpläne des 20. Jahrhunderts, das Einwandererland Brasilien mit seiner Patchwork-Identität sei dafür prädestiniert. Deutsche Genauigkeit und brasilianischer Pragmatismus, das passt nicht zusammen.
In der drittgrößten Stadt der Welt ist kein Gebäude älter als 80 Jahre. In 100 Jahren hat sich die Bevölkerung verhundertfacht, ein Drittel der heute 20 Millionen im Großraum São Paulo lebt in den 1300 Favelas. São Paulo schöpft seine Gestalt im Wildwuchs, Stadtplanung ist ein Hinterherräumen, ein Fahren auf Sicht. Seit 2005 sorgt ein Reklameverbot für visuelle Ruhe im Stadtraum. Dessen Fassaden zieren nur die Runenzeichen der Graffitigangs, die sich von Hochhausdächern und -fenstern abseilen. Zur Abwehr hängen oft riesige Moskitonetze bis zur Straße hinunter. „Wir haben keine Identität, die man schützen müsste“, erklärt Luiz Recaman. „Wir müssen sie erst bauen.“
Während in Deutschland schwimmende Städte für steigende Wasserpegel erträumt werden, steht den Bewohnern von Paraisópolis regelmäßig das Abwasser bis zum Hals. Die Favela im Süden São Paulos ist zum städtebaulichen Experimentierfeld geworden, das gerne auf Architekturbiennalen präsentiert wird. Sie liegt in einer Senke zwischen Apartmentblocks des wohlhabenden Viertels Morumbi, wie eine Vorratsgrube für günstige Arbeitskräfte. So bedingen Reichen- und Armenviertel einander. Wenn jetzt mit staatlichen Geldern in Paraisópolis´ Schulen, Sportplätze, ein Open-Air-Kino gebaut werden, hat das auch eine Inflation von Wohnraum zur Folge.
Doch darum können sich die Sozialarbeiter nicht kümmern, die die Bewohner in ihren selbst gebauten Ziegelhütten besuchen, um Sanierungen und die Vergabe von Gewerbeflächen zu besprechen. Bis Wasserleitungen und asphaltierte Straßen gebaut sind, stehen Übergangshäuser bereit. Die dunklen Plattenkasernen erinnern die deutschen Besucher mit Grausen an die Sackgassen der Moderne. Wirken die Siedlungen nicht kreativer und lebendiger? Mit Slumromantik muss man den Bewohnern aber nicht kommen. Bei einer Wohnungsbesichtigung überraschen Küchenzeile und Flachbildfernseher – wobei letzterer vor allem vom blühenden Kreditgeschäft der Banken zeugt.
Architektur für alle - Bürgerschaft aufbauen, heißt das Motto
São Paulo, das New York des Südens, ist ein Musterbeispiel für die globale Verstädterung und prädestiniert für eine Architekturschau, die globale Probleme aus der Perspektive der Südhalbkugel adressiert. Seit 1951 findet hier die zweitwichtigste Kunstbiennale der Welt statt, für die Oscar Niemeyer markante Bauten im Parque do Ibirapuera gestaltet hat. Auch Gregori Warchavchik und Lina Bo Bardi haben in São Paulo modernistische Ikonen hinterlassen. Die Architekturbiennale wurde 1973 gegründet, ruhte während der Militärdiktatur und findet seit 1997 im Zweijahres-Rhythmus statt. Seit der letzten Ausgabe steckt sie in einer konzeptuellen wie finanziellen Krise.
Im Streit mit der Biennale-Leitung musste der brasilianische Architektenverband in das Nachbargebäude OCA umziehen, ein weißes Niemeyer-Betoniglu mit Bullaugen und geschwungenen Rampen. Eine schöne Bühne, nur schlecht bespielt. In den ersten Biennale-Tagen fanden sich dort nur beschriftete Stellwände, vorwiegend in Portugiesisch, ohne Themenführung. „Architektur für alle – Bürgerschaft aufbauen“, tönt das Motto, das am ehesten an öffentlichen Legobautischen umgesetzt werden kann.
Auch die internationale Beteiligung ist gering, die USA, Japan oder die Schweiz sind gar nicht präsent. Norwegen zeigt entzückende Holzbauten in schöner Landschaft, Frankreich hat seinen Pavillon von der letzten Venedig-Biennale nochmal aufgestellt. Zumindest die Niederlande genügen dem Motto mit einer Zusammenschau architektonischer Guerilla-Interventionen.
Biennalen sind nicht nur Branchenforen, sie sind auch Standortwerbung, für Veranstalter wie Aussteller. In São Paulo ist abzulesen, dass der brasilianische Markt nicht besonders ernst genommen wird, auch nicht von deutscher Seite. Ulrich Hatzfeld vom Bundesbauministerium nennt die Stadt immerhin einen „der größten deutschen Industriestandorte“.
Umso gelungener die deutsche Ausstellung. Sie würdigt Bauten, die sich in ihre Umgebung schmiegen, Gabriele Glöcklers Leipziger Nationalbibliothek oder die Konzernzentrale der Aachen-Münchener vom Büro kadawittfeldarchitektur. Sie zeigt mit „Culture Wave City“ des Büros Obermeyer deutsche Großplanung in China. Und sie hält die gefragten nachhaltigen Lösungen bereit, wie eine umweltschonende Eisenbahnbrücke von SSF Ingenieure oder das energiesparende Verlagshaus der „Süddeutschen“ von GKK +.
Ungelenker Stolz spricht allerdings aus dem Titel „Baukultur Made in Germany“, der provinziell wirkt in einem Industriestaat, dessen Banken krisenfester sind als die europäischen. 15 Millionen neue Arbeitsplätze sind seit Lula da Silvas Sozialreformen in Brasilien entstanden. Wobei die degressive Einkommenssteuer die Gesellschaft weiter spaltet und die Lebenshaltungskosten Richtung Schweizer Niveau tendieren, so dass auch Angehörige der Mittelschicht ihre Winterjacke in Raten zahlen müssen. Gleichzeitig wächst die Nachfrage für private Luxusbauten.
Eine Billion Dollar werden bis 2014 in die Infrastruktur investiert. Dann ist Fußball-WM in Brasilien und fünf neue Stadien werden von Deutschen geplant sein, von den Dachexperten schlaich bergermann und partner, die im Deutschen Pavillon auch eine filigrane Fußgängerbrücke zeigen, und den allgegenwärtigen Gerkan, Marg und Partner (gmp). Ein Stadion entsteht in Manaus. Wenn Ralf Amann, der Brasilienleiter von gmp, vom undurchsichtigen Verhalten der Behörden im Amazonasgebiet erzählt, hat das Parallelen zu Fitzcarraldos Versuch, mit Hilfe von Eingeborenen ein Schiff über den Berg zu ziehen. „Deutsche machen einen großen Fehler, wenn sie denken, man könnte seine Portfolios vorstellen, Verträge unterschreiben und wieder gehen. In Brasilien muss man immer auf Manndeckung spielen.“
Die Ausstellung ist im Centro Cultural São Paulo untergebracht, einem Betonkomplex von Eurico Prado Lopes und Luiz Telles von 1982, in dem Kleinfamilien mit Laptop auf dem Boden kauern, Studenten auf Transparenten diskutieren und Jazztanzgruppen auf dem Flur üben. Eine wie selbstverständlich verwirklichte soziokulturelle Utopie, die den deutschen Besucher verblüfft. Mag der gebaute Raum in Brasilien oft lieblos erscheinen – der soziale ist es nicht.
Renato Anelli von der Universität São Paulo hat letztes Jahr im Auftrag der IBA in Hamburg-Wilhelmsburg geforscht und wunderte sich über die ethnisch segregierte deutsche Gesellschaft. Das wäre interessanter Gesprächsstoff. Aber Deutsche erzählen im Ausland offenbar lieber von sich selbst.
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