Kultur: Wilde Tänze, sirrende Pfeile
Halbzeit der Berliner Märzmusik: eine anatolische Reise und Großwerke aus den sechziger Jahren.
Eine „anatolische Reise“ führt in das den musikalischen Umbrüchen im türkisch- arabischen Mittelmeerraum gewidmete Thema der Märzmusik. Unter dem Titel „Hasretim“ („Meine Sehnsucht“) zeigt sie sich als „musikalische Installation“ des türkisch-armenisch-deutschen Komponisten Marc Sinan, in deren Orchesterpart Videodokumentationen anatolischer Volksmusiker eingespielt werden. Zunächst erscheinen Ebenen mit schroffen Bergrändern in der Dämmerung, zum Krächzen vorüberflatternder Krähen, wie kein Reiseprospekt dies schöner vermöchte.
Die Bühne des Kammermusiksaals füllt dazu ein eindrucksvoller Halbkreis blinkender Posaunen und Klarinetten, hochaufragender Langhalslauten und wuchtiger Trommeln: Unter der temperamentvollen Leitung von Andrea Molino findet das um türkische und armenische Gäste erweiterte Istanbuler Hezarfen-Ensemble mit Mitgliedern der Dresdner Sinfoniker zusammen. Dabei dominiert die musikalische Folklore: Die Melismen der „armenischen Flöte“ Duduk mit durchdringendem Schalmeienklang, die Rhythmen von Darbuka und Rahmentrommel übertönen zaghafte Streicherpizzikati oder selbst Posaunen- oder Fagott-Einwürfe. Ein wenig „Eulen nach Berlin tragen“ ist das schon – auf jedem Kreuzberger Straßenfest hört man diesen Klang, und nur an fragmentarischen Zersplitterungen ist auszumachen, dass hier „modern“ weiterkomponiert wurde. Spannender wirken die Videos – die zerklüfteten, tief melancholischen Gesichter der lautenspielenden Sänger oder wilde Tänze höchst vitaler Mädchengruppen ohne jeden Schleier. Isabel Herzfeld
Zweifellos ist es ein Höhepunkt der Märzmusik, beinahe ein historisches Ereignis, schon weil das Konzerthausorchester, als Symphonieorchester eigentlich auf das klassisch-romantische Repertoire fixiert, sich so bereitwillig auf Avantgardistisches einlässt – das in diesem Fall so avantgardistisch freilich gar nicht mehr ist. Im gut besetzten Konzerthaus spielt das Orchester unter dem Titel „Die späten 1960er“ Werke von Helmut Lachenmann, Jean-Pierre Guézec und Brian Ferneyhough, Kompositionen also, die seinerzeit radikal mit Tonerzeugung und Stimmgruppenorganisation experimentierten. Ein geschichtsträchtiger Abend ist es aber auch, weil so viel Neue-Musik-Prominenz gekommen ist. Lachenmann und Ferneyhough sind da; für den früh verstorbenen Guézec stehen seine „Formes“ von 1966 ein, die in ihrer brodelnden Flächigkeit klingen wie eine impressionistische Musik, die es über die Jahrhundertmitte geschafft und dabei an Muskelkraft zugelegt hat.
Am Pult steht Arturo Tamayo, der lange Jahre als Professor für die Interpretation der Musik des 20. Jahrhunderts in Freiburg lehrte. Die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky agiert mit Hingabe in dem Perkussions-Wigwam, den man ihr für Lachenmanns „Air“ gebaut hat – ein Gerüst aus Triangel, Kuhglocken, Xylofon, Klangschale, Schraper und liegender E-Gitarre. Im Publikum aber sitzen Dieter Schnebel, Olga Neuwirth oder Fabien Lévy, sogar eine Gruppe junger Komposititionsstudenten aus Edinburgh ist angereist. Noch eindrücklicher als die wummernden Abgründe oder die filzartig verwobenen Klangfelder in Ferneyhoughs „Firecycle Beta“ für zwei Klaviere und Orchester (Tamayo zur Seite steht das Klavierduo Grau-Schumacher sowie vier junge Damen und Herren, die je eine Gruppe aus dem riesenhaften Orchesteraufgebot anleiten) tönt dabei Lachenmanns „Air“ als musikalisches Wetteifern der unvergleichlichen Robyn Schulkowsky mit dem Orchester.
Die Raumwirkung dieser Musik ist überwältigend. Eisig wirkt sie, wo Geräusche und Schabeklänge dominieren, Peitschenhiebe oder das trockene Klopfen auf Saiten. Wie Wogen branden andererseits große Orchesterglissandi auf; man fühlt sich wie im 3-D-Kino, nur dass hier nicht Drachen oder Feuerzungen aus der Leinwand springen, sondern sirrende Pfeile, komplex geschichtete Klänge durch den Saal schießen. Christiane Tewinkel
Isabel Herzfeld
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