Immense Verluste: Wiedereröffnung der Kinos erst im Herbst?
Ausgebaute Sitzreihen, entzerrte Anfangszeiten: Die Kinos spielen Szenarien zur Wiederöffnung durch. Denn die Ausfälle in der Filmwirtschaft sind existenzbedrohend.
Alle Kinos geschlossen, bis weit in den Sommer? In Berlin womöglich bis 31. Juli?* Zwar heißt es nach ersten Ankündigungen am Dienstag nun, anders als für Theater und Konzerthäuser (die bis zum Ende der Saison am 31. 7. zu bleiben) seien die Kinos vorerst bis zum 10. Mai geschlossen. Dann endet die Laufzeit der aktuellen Verordnung. Vor dem 30. April wird nicht über die Zeit danach entschieden.
Womit das Dilemma und die Dramatik der Lage erst recht deutlich zutage treten. „Kino kann Abstand“, sagt Arne Höhne, einer der Teilhaber von Piffl Medien, die neben einem Filmverleih drei Freiluftkinos in der Stadt betreiben, in Friedrichshain, in den Rehbergen und am Kreuzberger Mariannenplatz.
Nicht nur das Piffl-Team bastelt tapfer an Wiedereröffnungsszenarien, hat konkrete Ideen für die Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln entwickelt.
Ausnahme für Open-Air-Kinos?
Von ausgebauten Sitzreihen über risikofreies Online-Ticketing und die Wiederbelebung der Institution Toilettenfrau bis zu entzerrten Anfangszeiten in den Indoor-Häusern, um Gedränge beim Einlass zu vermeiden.
Die Freiluftkinogänger seien es gewohnt mitzumachen, so Höhne, Sitzkissen zurückzubringen und ihren Müll zu beseitigen. Eine Folge der Wertschätzung: „In diesem Spirit könnten wir sicher auch die neuen Anforderungen gemeinsam stemmen“. Wird für die Open-Air-Stätten eine Ausnahme gemacht? Am Dienstagabend war es nicht in Erfahrung zu bringen.
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Ausgänge über ein Nebentreppenhaus, Verzicht auf penible Einlasskontrollen, so könnte es auch bei den festen Häusern funktionieren, wenn sie irgendwann wieder öffnen dürfen. Die AG Kino erarbeitet einen Hygienekatalog, der auch Desinfektionsmittel und den Maskenschutz auflistet.
„Wir brauchen differenzierte Ansätze. Ein Theater muss schon wegen der Proben und des Mindestabstands auf der Bühne andere Probleme lösen als ein Filmtheater“, sagt der AG-Vorstandsvorsitzende Christian Bräuer. Live im Kino ist „nur“ das Publikum.
Bräuer ist auch Geschäftsführer der Yorck Kinogruppe. „Mit 200 Mitarbeitern und insgesamt 100 Vollzeitstellen bekommen wir null Unterstützung, vom Kurzarbeitergeld und der möglichen Stundung von Steuern und Sozialabgaben einmal abgesehen.“ Man hofft jetzt auf das Soforthilfeprogramm IV des Senats.
„Und dass der Bund eine zielgerichtete Förderung für Kinos und Theater entwickelt“, betont Bräuer. Hohe Fixkosten, null Umsatz: Das gilt auch für die großen Player am Markt. Die Cinemaxx-Kette teilt auf Nachfrage ebenfalls mit, dass die „öffentlichen Fördermittel nur sehr wenig weiterhelfen“.
Hoffnung auf klarere Ansagen
Planungssicherheit, einheitliche Vorgaben bei den Schutzmaßnahmen, das wünschen sich die großen wie die kleinen Häuser. Laut Bräuer wächst das Unverständnis darüber, dass die Kulturwirtschaft erst allmählich auf den Zettel der Politik kommt. Gerade bei der privatwirtschaftlichen Kultur werde es anders als mit echten Zuschüssen nicht gehen.
Klarere Ansagen, darauf hofft auch Gerhard Groß, Geschäftsführer der Kinos in den Hackeschen Höfen. Die gibt es nun nur bis zum 10. Mai.* Wobei kaum zu erwarten ist, dass Kinos dann anders behandelt werden als etwa Theater.
In den Höfe-Kinos nutzt man die Ungunst der Stunde, um zu renovieren, Corona-Schutzvorrichtungen einzubauen und Projektförderanträge zu stellen, etwa für die Toiletten-Erneuerung oder eine bessere Klimatisierung der Säle.
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Alle leben auf Pump, und „alle sind gleich betroffen“, erklärt Christine Berg, Vorstandsvorsitzende des Hauptverbands der Filmtheater (HdF). Sie hofft auf schnelle Hilfe für diejenigen, die jetzt null Einkommen haben. Und auf „bundesweit einheitliche Regelungen“.
Angesichts der Tatsache, dass jede Schließungswoche 17 Millionen Euro Ertragsverlust bedeutet, listete der HdF bereits Anfang April Forderungen für die 25 000 Filmtheater-Beschäftigten in Deutschland auf. Dazu gehört auch Kurzarbeitergeld für die zahlreichen Minijobber .
Die Kinos sind jetzt erst recht darauf angewiesen, dass die Politik dem Mittelstand mehr unter die Arme greift. „Die Bürgschaften des Bundes schützen die Bank, nicht uns“, erklärt Gerhard Groß und denkt laut darüber nach, ob Darlehen nicht später in Zuschüsse verwandelt werden könnten, falls ein Unternehmen es nicht aus eigenen Kräften schafft.
Verlust kann nicht wieder eingespielt werden
Die Kinos werden nicht wieder einspielen können, was sie verlieren. Sie rechnen sich ja ohnehin nur dann, wenn es Spitzenauslastungen am Wochenende gibt, Top-Tage, an denen sie so gut wie ausverkauft sind.
Ein Drittel der Besucher, leere Sitze für den Abstand, weniger Vorstellungen, darauf läuft es mittelfristig hinaus, ab wann auch immer. Es wird nicht genügen, um die Kassen wieder zu füllen.
Aber „selbst wenn es auf rote Zahlen hinausläuft, wollen wir den Kontakt zu unserem Publikum bald wieder aufnehmen“, so Gerhard Groß. „Die Leute, die großzügig Gutscheine gekauft haben, sollen sie bald auch einlösen können.“
Die Stammkundschaft wird nun auf eine Geduldsprobe gestellt, ebenso wie das Publikum der Privattheater. Hinzu kommt, dass die gesamte Filmwirtschaft in einem Boot sitzt, einschließlich der Verleiher, Produzenten und Filmschaffenden.
Denn je länger die Kinos zu sind, desto mehr erhöht sich der Druck auf alle. Deshalb tauschen die Betreiber sich intensiv mit den Verleihern aus. Auch zum Drei-Säulen-Modell des HdF gehört ein gemeinsamer Filmstart-Katalog.
Umgekehrt hat Warner Bros. gerade die Soldiaritätskampagne #Kinokommtwieder! lanciert, mit Videobotschaften deutscher Stars, von Caroline Link bis Daniel Brühl.
Gravierende Folgen für die Kinoproduktion
Ein Beispiel von vielen: Wie bitte soll Piffl Medien den zweiten Startversuch für Christian Petzolds fantastisches Berlin-Wassermärchen „Undine“ auf den Herbst terminieren, wenn man dann gemeinsam mit Dutzenden anderen verschobenen Filmen gegen den neuen Bond antritt?
„Da kumuliert sich etwas“, sagt Arne Höhne. Auch kann der Online-Verkauf von Dani Levys „Känguru-Chroniken“ den Boxoffice-Stopp für den Spitzentitel der X-Filme nicht ansatzweise kompensieren.
Erst recht unrealistisch ist jede Prognose, ob und wann US-Blockbuster wieder international starten. Sie bilden die Hauptkonkurrenz für einheimische Werke, sorgen aber auch für volle Säle.
Christian Suhren vom Programmkino fsk am Oranienplatz blickt ebenfalls mit Sorge auf den Kinoherbst. „Die Massenstarts sind ja ohnehin längst ein Problem.“ Etwas anderes als Chaos kann er sich nicht vorstellen.
Wenn sich sämtliche gecancelten Filmstarts im letzten Drittel 2020 und später drängeln, hat das gravierende Folgen für die Produktion. Warum wieder drehen, wenn die Herausbringung längst fertiggestellter Titel sich bis weit ins nächste Jahr zieht?
Ein Verschiebebahnhof auch für drohende Pleiten: Weniger Filme in der nächsten und übernächsten Saison, das geht an die Existenz von Verleihern und Produktionsfirmen, von Regisseuren, Schauspielern, Gewerken.
Oder stürzen sich jetzt alle aufs Seriengeschäft? Die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) hält einen Stabilitätsfonds in Höhe von mindestens 563 Millionen Euro für unerlässlich.
Manche Kinos werden nicht überleben
Christian Bräuer stellt zudem zur Diskussion, ob nicht ein Teil der wirtschaftlichen Produktionsgelder aus dem Topf des Deutschen Filmförderfonds (DFFF) für akute Unterstützungsmaßnahmen umgewidmet werden kann. HdF-Chefin Christine Berg wiederholt die Anregung, den 17-Millionen-Euro-Topf des „Zukunftsprogramms Kino“ aufzustocken.
Schöner Wunsch, aber vermutlich perdu: dass die Open-Air-Kinos bald öffnen und am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, im Freiluftkino Kreuzberg „Die Brücke“ läuft. Die Fassadenkino-Initiative „Windowflicks“, die jetzt Berliner Hinterhöfe bespielt, ist da nur ein kleiner Trost.
Voraussetzung für das Gratis-Erlebnis, immer donnerstags und samstags: mindestens 20 Mietparteien mit Blick auf eine große Hauswand. Verleiher stellen Titel zur Verfügung, von „Shaun, das Schaf“ bis zu Wenders' „Himmel über Berlin“.
Cinema à la Corona. Die angedockte Spendenkampagne „Fortsetzung. Folgt“ wird noch lange gebraucht. So manches der jetzt geschlossenen 1734 Kinos in Deutschland dürfte es kaum schaffen, die Generalpause zu überleben.
(*Die Senats-Auskünfte zur Frage der Schließungsdauer für die Kinos lauteten am 22. April anders als am Vortag. Die Textpassagen dazu wurden entsprechend geändert.)
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