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Kultur: Wie wunderbar brennt mein Haus

Moll ist Trumpf: Chinawoman verbindet in ihrem Lo-Fi-Pop russische Melancholie und englische Texte. Eine Begegnung

Schnell, schnell, schnell – die Welt westlicher Metropolenbewohner dreht sich in einer immer höheren Geschwindigkeit. Doch das innere Tempo der Menschen bleibt davon weitgehend unbeeinflusst: Wie schnell jemand liest, isst oder geht, ist sehr persönlich. Und es würde sich seltsam anfühlen, das zu ändern.

Die innere Uhr von Chinawoman, die eigentlich Michelle Gurevich heißt, tickt in einem eher gemächlichen Tempo. Man kann sich die 31-jährige Kanadierin als eine entfernte Cousine des ultrabedachtsamen Kapitäns John Franklin aus Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ vorstellen. „Kürzlich fuhr ich auf dem Fahrrad und ein älterer Jogger, der wirklich nicht schnell war, ist an mir vorbeigelaufen. Es ist schwer, jemanden zu finden, der langsamer Rad fährt als ich“, sagt sie beim Gespräch in einem Kreuzberger Straßencafé. Auch ihr Redefluss ist ruhig und sanft, genau wie ihre Songs.

Zwei Alben hat die seit rund neun Monaten in Berlin lebende Musikerin in den letzten vier Jahren veröffentlicht, und nur selten gerät sie darauf einmal in Regionen, die jenseits vom Andante liegen. „Ich habe das Gefühl, die Bedeutung geht verloren, wenn man zu schnell spielt. Es ist einfacher, den Text ausdrucksstark rüberzubringen, wenn man langsam singt“, sagt sie. Und erinnert sich lachend an die Probe am Tag zuvor, bei der sie ihre beiden Mitmusiker immer wieder bremsen musste. Mechanisches Abspulen will sie schon im Ansatz vermeiden. Schließlich geht es ihr um große, tiefe Gefühle. Diese rüberzubringen, gelingt ihr mit relativ geringen Mitteln: Beats aus dem Computer, zwei, drei Keyboardspuren, gelegentlich eine Gitarre und – immer im Zentrum – ihre wunderbare Altstimme, die ein wenig an Tanita Tikaram erinnert, manchmal auch an Nico ohne deutschen Akzent.

Die schwermütige, düstere Stimmung ihrer Musik hat mit ihrer Kindheit in Toronto zu tun. Damals hörte sie geradezu besessen die elterlichen Platten und Kassetten. Es waren vor allem Popsongs und Balladen aus Russland, denn ihre Eltern – eine Ballerina und ein Ingenieur aus Leningrad – waren in den Siebzigern nach Kanada ausgewandert. Chinawoman begeisterte sich für den Sowjet-Megastar Alla Pugacheva, für Nikolai Slichenkos melancholische Romanzen und den Pathos-Rock Alexander Serovs. „Manches davon ist ziemlich trashig, und ich würde das englischsprachige Äquivalent wahrscheinlich nie hören,“ gibt sie zu und erinnert sich, dass sie zudem Fan von Nirvana, Pearl Jam, Metallica und Tori Amos war.

Auf die Idee, selber Musik zu machen, kam Michelle Gurevich vor fünf Jahren, als sich in ihrem Freundeskreis mehr und mehr Musiker tummelten. Sie selbst arbeitete als Cutterin und drehte nebenher Kurzfilme. Eines Tages surfte sie mit einem befreundeten Musiker auf Myspace- Seiten. Er fand, dass auch sie eine Seite brauche. Wenn du erst mal eine hast, willst du auch einen Song draufstellen, sagte er. Und so kam es dann auch: Sie fummelt sich in eine Recordingsoftware ein, nennt ihr Projekt halb scherzhaft Chinawoman (weil sie oft für eine Asiatin oder Halbasiatin gehalten wird) und stellt ihren ersten Song auf die Website. „I kiss the hand of my destroyer“ heißt er und ist genauso dramatisch, wie der Titel verspricht: Zu einem herzschlagartigen Beat, einem Akustikgitarrenmotiv und einer Orgel singt sie mit schön viel Hall im Refrain von einer scheiternden Beziehung: „With love I watch her watch me cry / How marvelous my house on fire“.

Ähnlich geht es auch sonst in ihren Lo-Fi-Balladen zu, die sich fast ausnahmslos um die Liebe drehen und allesamt sehr mollverliebt sind. „Für mich gibt es keine andere Tonart“, sagt Chinawoman. Daran sind wohl auch wieder die Russen schuld: Die meisten russischen Lieder bestünden aus denselben drei Akkorden, erklärt sie. E-Moll, a-Moll und b-Moll, gelegentlich komme ein B7 dazu. Daran orientiert sie sich – was in der Heimat ihrer Eltern erstaunlich gut ankommt: Ihre ersten Fans waren Russen, die ihre Songs im Netz gefunden hatten. Der russische „Rolling Stone“ brachte eine Kritik ihres ersten Albums „Party Girl“, und im Juni trat Chinawoman auf Festivals in Moskau und St. Petersburg auf.

Von der dortigen Begeisterung bekam sie anfangs überhaupt nichts mit. Denn nachdem sie „Party Girl“ fertiggestellt hatte, verschwand Chinawoman für sechs Monate in den kanadischen Wäldern. Sie zog mit dem Rucksack los, trampte, campte und arbeitete auf einer Öko-Farm – ohne Internetzugang. Als sie schließlich nach Toronto zurückkehrte, war sie überrascht von den vielen Kommentaren auf ihrer Website. „Die Leute reagierten viel stärker auf meine Musik, als sie jemals auf meine Filme reagiert hatten. Es war ungefähr so, als hätte ich die ganze Zeit Türkisch gesprochen und niemand konnte mich verstehen, aber als ich anfing, Japanisch zu reden, wussten plötzlich alle, was ich sagen will.“

Ihr filmisches Können nutzt Chinawoman jetzt für ihre Videos, die ihren Liedern oft eine berückende zusätzliche Dimension geben. So hat sie im Clip zu „Lovers are Strangers“ Material von einer Familienfeier ihrer Großmutter in Toronto benutzt: Ältere Damen drehen sich allein, zu zweit und manchmal auch mit einem Mann über die discobunte Tanzfläche. Die Bilder sind erfüllt von einer eigentümlichen Mischung aus Melancholie und Grazie, die perfekt zu dem Song über Fremdheitsgefühle und Unehrlichkeiten in Liebesbeziehungen passt. Ein Thema, das Chinawoman häufiger anspielt, wobei das Begehren in ihren Texten stets auf Frauen gerichtet ist. Sie habe nie gezögert, damit so offenherzig umzugehen, sagt sie. „Ich sehe das auch nicht als etwas, das meine Musik definiert.“

Ihre Fanbasis hat sich allmählich Richtung Westen ausgedehnt: Nach den Russen entdeckten sie Polen, Ukrainer, Serben und Kroaten. Um besser in Europa touren zu können, ist Chinawoman nach Berlin gezogen. Ohne zuvor jemals hier gewesen zu sein, packte sie zwei Koffer, ihr Keyboard und ihre Gitarre und kam in die deutsche Hauptstadt. Es war genug, dass Freunde ihr von Berlin vorgeschwärmt hatten – auch die noch immer vergleichsweise günstigen Lebenshaltungskosten waren ein Argument.

Und so lebt sich die Kanadierin langsam ein in ihre neue Welt. Derzeit sammelt sie Material für ein neues Album. Nachdem sich ihr Rekorder kürzlich mit vielen Ideen und Aufnahmen in den digitalen Orkus verabschiedet hat, fängt sie nochmal ganz von vorne an. „Die alten Sachen waren wie ein Anker, der mich runtergezogen hat. Jetzt sind sie weg und ich sage mir: Wenn sie bis jetzt keine Songs geworden sind, waren sie vielleicht nicht dazu bestimmt.“ Ruhiges Blut ist ein hohes Gut in hektischen Zeiten.

Konzerte: Down by the River Festival im Kater, Michaelkirchstr. 22/23, Sa 23.7., ab 14 Uhr. Mit Hidden Cameras, Sa 3.9., 20 Uhr, Heimathafen Neukölln

Nadine Lange

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