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"Breaking Bad", "House of Cards" & Co.: Wie Internet und US-Serien die Fernsehgewohnheiten ändern

Jahrzehntelang waren Fernsehhelden so komplex wie Abziehbilder. Doch die neuen Serien-Figuren heutzutage tun etwas Neuartiges: Sie verhalten sich wie richtige Menschen - und ändern so nachhaltig die Sehgewohnheiten des Publikums. Ein Essay.

Es ist etwas geschehen. Und obwohl wir dabei waren, ist es wie so oft schwer, den Moment der Veränderung zu bestimmen. Geschah es, als der Lehrer Roland Pryzbylewski in Baltimore vor seiner Schulklasse kapitulierte, weil er einfach nicht mehr weiter wusste? Oder passierte es, als der Mafia-Boss Tony Soprano breitbeinig die Praxis einer Psychoanalytikerin im US-Staate New Jersey betrat, die Hände vors Gesicht schlug und losheulte wie ein Schlosshund? Viele von uns waren dabei, manche sogar schon damals in jener Nacht Anfang der Achtziger, als Polizei-Sergeant Lucy Bates vor Verzweiflung zusammenbrach, weil sie gerade in einem New Yorker Slum ein schwer bewaffnetes Kind hatte erschießen müssen.

Drei Momente, die sich alle im Fernsehen ereigneten, genauer: in Fernsehserien. Roland Pryzbylewski ist ein Charakter aus der Großstadt-Serie „The Wire“, Tony Soprano der Titelheld aus dem Mafia-Epos „The Sopranos“ und Lucy Bates eine Rolle aus dem Polizeidrama „Hill Street Blues“. Und obwohl alle drei Charaktere aus verschiedenen Jahrzehnten stammen, haben sie etwas gemeinsam. Sie alle taten etwas Unerhörtes, das Serienhelden normalerweise nicht tun: Sie verhielten sich wie richtige Menschen.

Jahrzehnte lang verfügten Fernsehhelden über die Komplexität von Abziehbildern. Ein Don Johnson, ein Colt Seavers oder ein MacGyver hätte eher nackt einen Tigerkäfig betreten als bekleidet die Praxis eines Therapeuten. Die Serie des 20. Jahrhunderts war denn auch eher mit Comic-Strips als mit komplexen Kinofilmen verwandt: Woche für Woche projizierte sie die Unterschiede zwischen Mann und Frau, Gut und Böse, Schwarz und Weiß in die Wohnzimmer. Irgendwann taten sich Risse auf in dieser heilen Welt. Den Beginn dieser Entwicklung machen manche im Polizei-Drama „Hill Street Blues“ von 1981 aus. Anstatt ein überschaubares Problem in einer einzelnen Episode häppchenweise zu lösen, schenkte die Serie ihren Protagonisten zwei Dinge: ein Gedächtnis und eine Zukunft, wie Richard Beck in einem viel zitierten Essay für das New Yorker Magazin „n+1“ schrieb.

Seitdem haben Serien amerikanischer Sender wie HBO oder ABC die Sehgewohnheiten des Publikums nachhaltig verändert. Psychologische Konzeptionen lösen die einfache Zuordnung in ein moralisierendes Gut-Böse-Schema ab. In „Breaking Bad“ entwickelt sich ein krebskranker Familienvater mit einem behinderten Kind aufgrund von Geldproblemen zum skrupellosen Drogenboss. Die „London Review of Books“ widmete der DVD-Box gerade eine so umfangreiche Besprechung, als handele es sich um eine Neuausgabe der Werke eines Dickens oder Balzac.

Inzwischen bricht das Internet mit seinen Möglichkeiten von Download und Stream selbst die Grundgesetze der Serie. Anstatt wie in guten alten Fernsehtagen eine Woche lang begierig auf die nächste Folge zu warten, verschlingen Seriensüchtige ihre Droge zunehmend am Stück: 20 Folgen hintereinander und ganze auf dem Sofa verbrachte Wochenenden sind keine Seltenheit. Dem mit dem englischen Wort für Exzess „Binge“ – oder „Marathon-Viewing“ genannten Suchtschema tragen auch die Produzenten Rechnung. Die neue Serie „House of Cards“ wurde eigens dafür konzipiert und nicht im Fernsehen, sondern auf dem Internetportal Netflix erstveröffentlicht – und zwar alle Folgen auf einmal. Im Mittelpunkt der düsteren US-Adaption eines britischen TV-Dramas steht der amerikanische Kongressabgeordnete Frank Underwood (Kevin Spacey), der bei der Postenvergabe übergangen wurde. Aus Rache entfaltet er ein Ränkespiel, gegen das die Charaktere der im selben Milieu spielenden Serie „West Wing“ so harmlos wirken wie die Teletubbies. Dazu buhlt der Bösewicht hartnäckig um Sympathien.

Wenn er gerade wieder einen drogenkranken Politiker erpresst oder den Vaterkomplex einer jungen Journalistin schamlos ausgenutzt hat, dreht er sich in die Kamera und wendet sich augenzwinkernd direkt an die Zuschauer: „Na also, geht doch. Sie werden sehen, bald bin ich am Ziel.“ Im Theater nennt man so etwas das Einreißen der vierten Wand. Zyniker kommen hier auf ihre Kosten. Verglichen mit den auf Cliff-Hanger setzenden Hochspannungsserien wie „24“ oder zuletzt „Homeland“, in denen stets die nächste Apokalypse droht, lässt einen das politische Schicksal eines Abgeordneten jedoch vergleichsweise kalt.

Das politische Amerika zollt seinem populären Zerrbild hingegen Respekt: Als Präsident Obama vor ein paar Tagen zum traditionellen Korrespondenten-Dinner ins Weiße Haus lud, erheiterte er seine Gäste mit einem im Stile von „House of Cards“ gedrehten Clip. Auch wirtschaftlich ist die Serie ein ernstzunehmender Faktor. Für Netflix hat sich die Serie, die in Deutschland vom Pay-TV-Sender Sky Atlantic HD ausgestrahlt wird, bereits ausgezahlt. Um zwei Millionen Abonnenten soll das Portal mit Ausstrahlung der Serie auf 36 Millionen zugelegt haben – und schreibt prompt wieder schwarze Zahlen. Nach Bekanntgabe der letzten Quartalsumsätze von einer Milliarde Dollar legte prompt auch die Aktie um satte 18 Prozent zu. Kein Wunder, dass eine neue Staffel in Vorbereitung ist.

„House of Cards“ könnte so dereinst in der Rückschau als eine noch wichtigere Zäsur bewertet werden als „Hillstreet Blues“ Anfang der Achtziger. Denn mit ihr verliert das Fernsehen sein ureigenstes Medium ans Internet: die Serie. Für Marathon-Zuschauer stellt sich ein weiterer Effekt ein. Klappt man nach einem vor dem Monitor verbrachten Wochenende den Rechner zu und schleicht mit geröteten Augen am Montag wieder ins Büro, wirkt plötzlich alles harmlos. Im Lichte des neuen narrativen Realismus betrachtet kommt einem das echte Leben vor wie eine Fernsehserie aus vergangenen TV-Tagen: ziemlich unrealistisch.

Bodo Mrozek

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