"Die Rasenden" - Karin Beiers Hamburger Spielzeitauftakt: Wie es ihr zerfällt
In Köln war ihr Haus drei Mal "Theater des Jahres". Jetzt soll Karin Beier das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg aus der Bedeutungslosigkeit retten. Ihre Spielzeit hat sie mit einem ambitionierten, ja monumentalen Antikenprojekt gestartet.
Vom Nachmittag bis fast zur Mitternacht hat dieses mächtige Antikenprojekt, genannt „Die Rasenden“, gedauert. Und am späten Ende haben sie selber fast gerast, die Hamburger Zuschauer – falls man hanseatische Gemütszustände überhaupt so emphatisch bezeichnen kann.
Vor allem war da Erleichterung mit im Spiel. Jahrelang ist das Deutsche Schauspielhaus, das größte noch immer in diesem Land, flau dahingedümpelt, der einstige Stolz Hamburgs schier zerbrochen. Dann sollte im Herbst alles anders, besser, spannender werden, weil Karin Beier, die zuvor das Schauspiel Köln mehrfach zum „Theater des Jahres“ gemacht hatte, als regieführende Intendantin das Ruder übernahm. Doch vor ihrer Auftaktpremiere stürzte ein Teil der Bühnenmaschinerie ab, und erst am vergangenen Wochenende durfte sich der Eiserne Vorhang wieder öffentlich heben.
Nun also in diesem Weltkriegsgedenkjahr ein Panorama jenes berühmtesten Kriegs der antiken Welt, der zehnjährige Kampf zwischen Griechen und Trojanern. Liebeskrieg, Eifersuchtsdrama und politische Schlacht: um die geraubte Prinzessin Helena und die Vorherrschaft zwischen Europa und Kleinasien. Die Mythen Homers erzählen davon und zahlreiche Tragödien, es geht, nicht zuletzt, auch um den Fluch des Atriden-Geschlechts. Zu ihm gehören die Könige und Feldherren Agamemnon und sein Bruder Menelaos (Gatte der von den Trojanern entführten Helena), Agamemnons Frau Klytaimnestra und deren Kinder Iphigenie, Orest, Elektra, Chrysosthemis. Und viele viele andere.
Ein Potpourri aus Aischylos, Sophokles, Euripides, Sarte, Nietzsche und Heiner Müller
Viele und vieles hat auch Karin Beier aufgeboten: gut 20 teilweise hochkarätige Schauspieler/innen, etwa 80 Mitglieder der Sängerakademie Hamburg und das rund 30-köpfige wunderbare Musikensemble Resonanz. Dazu haben Beier und ihre Dramaturginnen Rita Thiele und Ursula Rühle ein Text- und Motivpotpourri zusammengestellt aus der „Orestie“ des Aischylos, von Euripides’ „Iphigenie in Aulis“ sowie aus Jean-Paul Sartres Bearbeitung der „Troerinnen“ des Euripides und Hugo von Hofmannsthals Version der „Elektra“ nach Sophokles. Plus Nietzsche- und Heiner-Müller-Zitate sowie allerhand Eigeneinlagen, ein Bogen von vorgestern über gestern ins Heute .
Wie Ariane Mnouchkine und das Pariser Théâtre du Soleil vor zwei Jahrzehnten in ihrem furiosen, genialen Zyklus „Les Atrides“ beginnt auch Karin Beier mit der selten gezeigten „Iphigenie in Aulis“. Meist wird ja nur die goethesche „Iphigenie auf Tauris“ gespielt, aber das in der Tat aufregendere, härtere Stück ist die aulische „Iphigenie“, die davon erzählt, wie der Krieg begann. Das griechische Heer und die Flotte liegen fest, eine von der Göttin Artemis verhängte Windstille, die nur durch die Opferung Iphigenies beendet werden kann. Für dieses Opfer wird sich zehn Jahre später die Mutter Klytaimnestra an dem siegreich heimkehrenden Vater und Opferer Agamemnon rächen, was wiederum die Blutrache der Kinder Elektra und Orest zur Folge hat.
Die groß gewagte Veranstaltung schwankt schon sehr zwischen Kothurn und Kantine
Die riesige schwarz ausgeschlagene Bühne ist erst einmal nackt, bis auf zwei Hängebretter und ein paar Minipodeste, die auch als kuriose Kothurne taugen. Der von Götz Schubert kraftvoll verkörperte General Agamemnon und seine von Maria Schrader mit feiner Verve gezeichnete Klytaimnestra treten wie auch Iphigenie zunächst in Unterhemden auf, dazu teilweise im prolligen Drillich. Die Kothurne sind Ironie, die antikisierten Pappmasken Pathosplunder, das Papierkrönchen von Menelaos, den wir sehr bald (wie manch andere) in der Unterhose sehen, ein Witz. Man begreift da leider schnell: Diese groß gewagte Veranstaltung schwankt schon sehr zwischen Kothurn und Kantine.
Doch gibt es starke Momente. Wie Götz Schuberts Agamemnon erst Iphigenie, später auch die Trojanerin Kassandra (schwarz und schön Rosalba Torres Guerrro) wie eine überwältigte, ohnmächtige Fleischpuppe vor sich herschwenkt, halb umarmend, halb würgend. Und die blonde, ratzköpfige Anne Müller untermalt die Zerrissenheit ihrer jungen Iphigenie mit einem Wechsel von spastisch verwundenem Fingerspreizen und Fäusteballen. Nimmt sie, eben noch um ihr Leben flehend, jäh doch ihren Tod als Tat „fürs Vaterland“ an, dann kriegt sie Schaum vorm Mund, kreischt glüh- und blauäugig „Opfert mich!“ und „Komm Krieg, brich los!“. Mit einem Mal eine kindersoldatische Fanatikerin, wie vom Goebbels gebissen. Eine Rasende.
Das erkennt auch Agamemnon, der lieber ein guter Vater und Behüter sein möchte, aber: „Wir sind im Krieg, hier geht’s nicht um uns, hier geht’s um alle. Meinst du“, sagt er zu Klytaimnestra, „ich hätte mir dieses Dilemma ausgesucht?“ Was so redet, ist plötzlich Papier.
Euripides Drama wird verkleinert auf Wohnküchen-Familienpsychologie
Das großartige Euripides-Drama, das vor 2500 Jahren auf erstaunliche Weise bereits den Zusammenhang von Demagogie und Demoskopie, von Politik und Populismus thematisiert (vor allem in der hier gestrichenen Figur des Odysseus) – es ist nun verkleinert auf Wohnküchen-Familienpsychologie, auf allzu absichtsvolles Thesengeplänkel. So ist bald auch die Rede vom „Bürgerkrieg“, von europäischem Kolonialismus und der Forderung „Freie Fahrt durch die Dardanellen!“ (als spräche ein ADAC der Antike).
In einer Mischung aus Open Kitchen, Fresstempel mit schnippelnden Köchen und rotlichtigem Nachtclub spielt dann der Mittelteil „Agamemnon“ (in der „Orestie“-Übersetzung, soweit vorhanden, von Peter Stein selig). Es gibt da im Hintergrund auch einen Showcoolroom mit aufgehängten Schweinehälften, deren eine später vom Kronleuchter baumeln wird. Das hat dem am Ende so wohlig erschöpft begeisterten Publikum am wenigsten gefallen. Ist aber der kühnste Teil des Unternehmens, weil hier im Ansatz doch ein Bild gefunden ist in Thomas Dreißigackers Szenerie: für das Geprasse fern der Front. Für den Opportunismus der Bürger und Kriegsgewinnler zu Hause, denen ein (leider zu harmlos verwitzeltes) Trio der Topdarsteller Joachim Meyerhoff, Michael Wittenborn und Gustav Peter Wöhler in bunten Rollkragenpullis mampfend und kalauernd ein überzeitliches Gesicht zu geben sucht.
Viel nackte, blut- und rußverschmierte Brüste, Orest (Carlo Ljubek) begrapscht inzestuös die zu erschlagende Mutter Klytaimnestra, ein Muttermördersöhnchen, das mit nacktem Hintern auch noch auf der Leiche des zuvor erledigten Liebhabers der Mama reitet. Birgit Minichmayr als schwarzumflorte Elektra ist fast nur (eindrucksvoll) im Video zu sehen, Julia Wieninger spielt eine im Schmerz und Pathos stolze, versklavte trojanische Königin Hekuba, und Angelika Richters Helena singt auch mal mit blonder Marilyn-Perücke (sinnfrei) „Happy Birthday, Mr. President“. Das Ende dann, das Gericht über den Bluträcher Orest, das bei Aischylos den Beginn des Rechtsstaats und die Morgendämmerung der Aufklärung markiert: Hier ist es eine Kabarettnummer über die Unschärferelationen der Quantenphysik, von Joachim Meyerhoff an einem Schultäfelchen karikierend vorgeführt. Schuldig oder nicht schuldig? Halb und halb. „Am liebsten“, witzelt er dazu, „ist mir immer ein Null-zu-Null-Unentschieden.“ Das ist zu wenig – für einen so groß gedachten, mindestens musikalisch auch großartig untermalten Kampf.
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