Klaus Modick: "Sunset": Wie eine Wurst im Treibhaus
„Sunset“: Klaus Modicks Buch über die väterlich-innige Beziehung von Lion Feuchtwanger zu Bertolt Brecht
Ein alter Mann reckt seine müden Glieder. Er denkt: „Der Preis des Alterns ist die Einsamkeit.“ Es ist wahr: Einstein ist tot, Werfel ist tot, Heinrich Mann ist tot, und jetzt hat es auch Brecht erwischt, seinen Freund, vielleicht den einzigen, den er je hatte. Und während wehmütige Gedanken ihn heimsuchen, denkt er über das Wort „heimsuchen“ nach. „Merkwürdiges Wort, weil es das Gegenteil sagt. Nicht ein Heim suchen, sondern verfolgt werden.“
Lion Feuchtwanger, einer der letzten im Exil verbliebenen und um die amerikanische Staatsbürgerschaft ansuchenden Vertreter der deutschen Exilliteratur, sollte dieses Heim, bis er im Jahr 1958 vierundsiebzigjährig starb, im kalifornischen Exil suchen. Hat er es gefunden?
Thomas Mann hatte kurz nach seiner Emigration in einem Interview mit der „New York Times“ behauptet, dort, wo er sei, sei Deutschland. Aber selbst die Manns hatten Amerika verlassen. Er, Feuchtwanger, war geblieben. Seine Bücher und die Filmrechte daran verkauften sich glänzend. Schon kurz nach seiner Ankunft in Pacific Palisades war Feuchtwanger in der Lage, ein großes Anwesen zu erwerben und es mit einer noblen Bibliothek auszustatten. In der Villa Aurora lebte er ab 1943 mit seiner Frau Marta in gediegenem Luxus, den die „Familie Thomas Mann“ neidisch vom San Remo Drive aus zur Kenntnis nahm.
Es war eine Überlebensgemeinschaft, die in den vierziger Jahren an der amerikanischen Pazifikküste gestrandet war. Ihre Mitglieder hätten unterschiedlicher nicht sein können. Nun waren sie im Wartesaal des Exils, das Jahre zuvor im südfranzösischen Sanary-sur-Mer seinen Anfang nahm, schicksalhaft miteinander verbunden: in leidenschaftlicher Feindschaft (Bert Brecht und Thomas Mann) oder in tiefer Freundschaft (Brecht und Feuchtwanger). Brecht als enfant terrible der Szene, als Zornesmann, der ins Visier der amerikanischen Kommunistenjäger geriet und sich bis zur Rückkehr in seine „merkwürdige DDR“ weigerte, die Sprache der Gastgeber zu lernen. Anders Feuchtwanger, der erfolglosen Exilanten großzügig mit Geld aushalf, sich mit politischen Äußerungen aber zurückhielt und lieber historische Romane schrieb, wofür man ihn nach dem Krieg als „Ersatzklassiker“ (Hans Mayer) verspottete. Zwei Männer, zwei Weltbilder, zwei weltberühmte Künstler: Der Romancier Klaus Modick hat ihre Beziehung jetzt in einem kleinen, aber feinen Buch herausgearbeitet.
Anders als Michael Lentz, der 2006 in „Pazifik Exil“ ein ganzes Kammerspiel mit dem tragikomischen deutschen Einwandererpersonal inszenierte, beschränkt Modick sich auf die Perspektive des greisen Feuchtwanger. Und dessen Lebenserinnerungen gebühren 1956, die Todesnachricht noch in Händen, nur einem Einzigen: Bertolt Brecht. Bereits 1918, nachdem dieser in München vorstellig geworden war, hatte Feuchtwanger keinen Zweifel an der archaischen Kraft dieses jungen Dichters. Er, dessen eigener Vater ihn noch auf dem Sterbebett mit Verachtung gedemütigt hatte, fühlte sich dem Jüngeren väterlich verbunden. Im Exil kultivierten beide nicht nur ihre Feindschaft zu Thomas Mann, sondern unterhielten auch eine männerbündische Künstlerbeziehung. So notiert Feuchtwanger nach einem gemeinsamen Bordellbesuch: „Mit B. im R., recht nett. B. meint, man müsse genauer über Kapitalismus und Vögeln nachdenken.“
Was zog Feuchtwanger an seinem wilden Dichterfreund so an? „Der Brecht war fast immer schlecht rasiert, nicht nur als junger Mann. Der hat aber auch fast nie die Schminke des Talents aufgelegt. Bei dem war von Anfang an das Werk sichtbar. Dafür hat Feuchtwanger ihn geliebt, und dafür hat er ihn beneidet.“
Klaus Modick verzichtet in seiner feinen Charakterstudie auf allzu freimütige Fiktionalisierungen. Dabei kommt ihm eine intensive Beschäftigung mit Feuchtwanger in seiner früheren Doktorarbeit zugute, sowie ein Arbeitsstipendium in der kalifornischen Feuchtwanger-Villa Aurora. Dort, wo sein einstiger Mitstipendiat Michel Lentz seinen Helden teilweise dicke Theaterschminke aufträgt, arbeitet Modick im halb dokumentarischen, stützt sich auf Briefe, Tagebücher und andere Überlieferungen, was das ganze Unternehmen nicht weniger literarisch macht. Großartig etwa die Ausgestaltung der Stinktierszene, in der sich Feuchtwanger nicht mehr aus dem Haus traut, weil es von einem gemeingefährlichen Stinktier bewacht wird. Modick gelingt hier eine unübertroffene Metapher für den Überwachungswahn der McCarthy-Ära, der Feuchtwanger selbst zum Opfer fiel, sowie für die sprachliche Impotenz, über die nicht nur Brecht sich bitter beklagte: „hier kommt man sich vor wie franz von assisi im aquarium, wie lenin im prater (oder oktoberfest), eine chrysantheme im bergwerk oder eine wurst im treibhaus“, schrieb er einmal.
Ohne sie über Gebühr auszuschnörkeln, bringt Modick damit die großen Themen der Emigration aufs Tapet: deutsche Literaturstars ohne Werk (Döblin, Schönberg, Heinrich Mann) und die Unfähigkeit sich in die neue Gesellschaft zu integrieren (Brecht, auch Thomas Mann). So bezieht sich Modicks „Sunset“ nicht nur auf die Lebensbilanz eines der wenigen auch in Amerika erfolgreichen deutschen Schriftsteller. Mit „Sunset“ ist auch die Dämmerung einer ästhetischen Moderne gemeint, die nach 1945 langsam und unaufhaltsam wie die blutrote Sonne Kaliforniens im Pazifik versank.
Klaus Modick:
Sunset. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011.
192 Seiten, 18,95 €.
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