Literatur zum Holocaust: Wie eine 14-Jährige das Ghetto von Lodz erlebte
„Mir ist kalt ums Herz“, schreibt Rywka Lipszyc in ihr Tagebuch. „Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“, das jahrelang verschollen war, ist jetzt im Suhrkamp Verlag erschienen. Von der Verfasserin fehlt immer noch jede Spur.
Der große Saal in der Neuen Jüdischen Synagoge ist voll. Die Leute sitzen still vor dem Podium. „Dieses Buch“, erklärt Katarzyna Wielga-Skolimowska, Leiterin des Polnischen Instituts in Berlin, „ist ein wichtiges zeithistorisches Dokument.“ Dann hält sie einen Moment inne und fügt hinzu: „Aber es ist auch einfach ein Wunder.“
„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“, von dem sie spricht und das der Jüdische Verlag im Suhrkamp Verlag jetzt veröffentlicht hat, war jahrelang verschollen. Genauso fehlt von seiner Verfasserin, einem jüdischen Mädchen, damals 14 Jahre alt, jede Spur. Alles was man weiß, ist, dass sie nicht im Holocaust starb.
Rywka lebt im Ghetto Lodz, nach dem Ghetto in Warschau das zweitgrößte in Polen. Sie ist Waise, die Eltern sterben an Hunger. Rywka muss sich um die Cousinen und die kleine Schwester kümmern. In ihrem Tagebuch schildert sie den Alltag im Ghetto aus den Augen einer gläubigen Jüdin. Sie schreibt über ihre Beziehung zu Gott, erzählt vom Unterricht, den sie anfangs noch besucht, der Arbeit in der Näherei, Literaturzirkeln. Immer wieder begegnet man auch den typischen Problemen eines 14-jährigen Mädchens; dem Gefühl, von der Außenwelt nicht ernst genug genommen zu werden, den Anforderungen nicht zu genügen, Selbstzweifeln. Sie sucht Trost im Schreiben.
„Mir ist kalt ums Herz“, schreibt sie Januar 1944 in ihr Tagebuch, aus dem an diesem Abend die Schauspielerin Kathrin Angerer liest, „als ich das zum ersten Mal gespürt habe, ist mir die Geschichte von dem armen Jungen und dem alten Mann eingefallen. Der Junge sagt: ‚Wenn ich kalte Füße habe, kann ich aufstampfen, wenn ich kalte Hände habe, kann ich sie reiben‘. Er zählt der Reihe nach alle Körperteile auf, bis er zum Herz kommt, wie er das wärmen soll, weiß er nicht. Der Alte gibt ihm einen Pelz oder so etwas und sagt: ‚Mein Kind, achte gut auf dein Herz, das Herz ist das Wichtigste, achte darauf, dass es niemals kalt wird!“
Die 14-Jährige überlebte, man weiß nicht wie
Kurz darauf wird Rywka mit ihren Cousinen und ihrer kleinen Schwester in einem Viehwagon nach Auschwitz deportiert. Jede von ihnen darf Persönliches bis zu einem Höchstgewicht von 20 Kilogramm mitnehmen. Zu Rywkas Gepäck gehört auch ihr Tagebuch. Eine der Cousinen erinnert sich, wie ihr ein Arzt nach der Befreiung im Spital erzählt, Rywka liege im Sterben. Die Cousine lässt sie zurück, im Glauben, sie werde einfach nur ein weiteres der grausigen Kriegsopfer werden. Doch Rywka stirbt nicht. Was mit ihr passiert, ist unklar. Sie gerät in Vergessenheit. Bis man Jahrzehnte später das Tagebuch entdeckt.
Rywka Lipszyc: Das Tagebuch der Rywka Lipszyc. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2016. 237 Seiten, 22,95 €
Giacomo Maihofer
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