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Denn er wusste, was er tat. Bob Dylan in den frühen Sechzigern in New York. Der Outlaw mit der E-Gitarre blitzt schon in seinen Augen.
© Sony Music

Bob Dylan: Wie ein rollender Schrein

Die Kunst der Verwandlung: Bob Dylan, der größte Sänger und Poet der Rockgeschichte, wird am Dienstag 70 Jahre alt. Seine Karriere umfasst ein halbes Jahrhundert.

Das 20. Jahrhundert hat, vom Totalitarismus bis zur Pop-Kultur und zum Sport, mächtige Ersatzreligionen hervorgebracht. Und immer haben Fans versucht, eines ihrer Idole zum Gott auszurufen. Elvis Presley, Eric Clapton, Michael Jackson und John Lennon, der mal von sich sagte, er sei berühmter als Jesus, gehören auf die blasphemische Liste des Pop. Aber der einzige ernsthafte Anwärter auf das höchste Amt ist Bob Dylan, aus gutem Grund: Er antwortet nicht auf Gebete, er erhört sie nicht. Und er hat sie alle, Fans wie Exegeten, über Jahrzehnte stets enttäuscht. Darauf ist Verlass.

„Gott, das ist der Begriff nur von sich selbst, der kein Prädikat duldet“, heißt ein Satz aus dem mittelalterlichen „Buch der Philosophen“. Keine schlechte Beschreibung eines Künstlers, dessen poetische Kraft und Aura zu groß ausgefallen sind für einen einzelnen Menschen, der geschlagen, gesegnet war von zu viel Zeitgeist, zumal in den Sechzigern. „Dylan ist praktisch eine Religion“, schrieb „Newsweek“ Ende 1963, sein Ruhm grenze an Anbetung.

Ewig lang ist sein Sündenregister in den Augen der Orthodoxen, doch diese Sünden waren stets auch Befreiungsakte, revolutionäre Um- und Ausbrüche. Er hat die Folk-Bewegung vor den Kopf gestoßen, als er mit der elektrischen Gitarre auf sie losging. Er schrieb Songs, die man als Anti-Vietnamkriegs-Protest verstehen musste, aber war für politische Aktionen nicht zu haben, er wusste: „Songs können die Welt nicht retten.“ Er ging nicht zum Hippie-Gipfel nach Woodstock, sondern ins damals stockkonservative Nashville, tauchte unter, gab sich kryptisch-hedonistisch in den Siebzigern, verschlief die Achtziger, konvertierte von seinem atheistisch-intellektuellen Judentum zum Jesus-Frömmler und stellt seit 1988 die Gemeinde mit seiner Never-Ending-Tour auf die Probe, die einem Autodafé gleicht, mit tausenden Konzerten, von denen – geschätzt – jedes zweite schmerzhaft in die Binsen ging.

Ende Juni spielt er in Mainz und in Hamburg, und, ja, die Getreuen werden wieder fahren, um den 70-jährigen Leierkasten-Luzifer zu sehen und auf die Nuancen zu hören. Enttäuschung und Erleuchtung liegen dicht beieinander.

„Bob ist the name of all evil“, heißt es in David Lynchs diabolischer Fernsehserie „Twin Peaks“. Alles Übel heißt Bob. Er spielte für Johannes Paul II. in Bologna, er spielte in West Point, dem Allerheiligsten des amerikanischen Militarismus. Das Konzert in Peking vom April 2011– die Setlist war mit den chinesischen Behörden abgesprochen, von Menschenrechten kein Wort – war die jüngste Folge der enttäuschten Erwartungen.

Kein anderer Künstler seiner Größenordnung besitzt eine derart intakte und einbruchssichere Überlebenstechnik. Was weiß man schon von seinem Privatleben! Wenn Pop vom Einverständnis, vom Kontakt und Austausch des exponierten Individuums mit seinem Publikum lebt, dann hat Bob Dylan, der am 24. Mai 1941 in Duluth, Minnesota, als Robert Allen Zimmerman geboren wurde, Sohn jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, gegen alle Gesetze der Pop-Kultur verstoßen.

Jim Morrison, Jimi Hendrix, Janis Joplin standen nicht vor dem epochalen Problem, eines Tages das Alter ihrer Eltern zu erreichen, sie starben früh. Lieblinge der Götter, wie das lateinische Sprichwort sagt. In den nächsten ein, zwei Jahren kann man ihre fiktiven 70. Geburtstage feiern. Abtreten, abkratzen oder weitermachen – in seiner 50-jährigen Laufbahn stand Dylan oft vor der Alternative. Darin liegt ein Teil der ewigen Dylan-Enttäuschung und Irritation. Er wollte als Junge größer sein als Elvis, aber er lebt. Er hat alles überlebt. Eine monströse Leistung, ein Versteckspiel, Mimesis lebenslänglich.

Wie ungeschickt wirkt seine Cover-Art, wie unscharf sind die Porträts, die seine Alben zieren. Mit Hut oder Sonnenbrille, im dunklen Studio, offensichtlich so linkisch fotografiert wie die Art, mit der er auf der Bühne herumtänzelt. Negation ist ein entscheidendes Prinzip der Kunst im 20. Jahrhundert, und Dylan ist darin ein Meister. Davon künden die Titel der Filme, die mit ihm und über ihn gedreht wurden: „Don’t Look Back“, „Eat the Document“, „No Direction Home“ und „I’m not There“: Todd Haynes’ surreales Biopic mit sechs Bob-Darstellern zeigt den authentischsten Dylan aller Zeiten – gespielt von Cate Blanchett. In „Pat Garrett & Billy the Kid“ von Sam Peckinpah, für den er die Musik schrieb, hat er einen verhuschten Gastauftritt. Sein Name: Alias. Die Songs, die von Abschied und Abkehr, von Brüchen und Schlüssen erzählen, sind Legion: „Don’t Think Twice, It’s All right“, „It’s All Over Now, Baby Blue“, „It Ain’t me, Babe“. Die visionären Ein-Mann-Oratorien haben apokalyptische Dimensionen: „Desolation Row“, „Gates of Eden“, „It’s Alright, Ma (I’m only bleeding“) und vor allem „Like a Rolling Stone“.

Dass dieses sechsminütige Opus magnum von der Zeitschrift „Rolling Stone“ zum besten Rocksong aller Zeiten gekürt wurde, ist vielleicht nur ein Gimmick. Aber allein dieses 1965 wie aus einem düsteren Himmel herabgefallene Stück hat die Auffassung von Musik schlechthin bei so vielen Menschen verändert. Bruce Springsteen, in seinen jungen Jahren als der „neue Dylan“ gefeiert, was ihm eher geschadet hat, sagte: „Der Trommelschlag zum Auftakt klang so, als würde jemand die Tür zu deinem Kopf auftreten.“ Und es war auch Springsteen, der erkannte: „Bob hat den Geist befreit, so wie Elvis den Körper befreit hat“. Dafür genügten ihm drei Alben, die zwischen März 1965 und Mai 1966 wie heiße Asche vom Himmel fielen: „Bringing It All back Home“, „Highway 61 Revisited“ und „Blonde on Blonde“, das erste Doppelalbum der Rockgeschichte – eine unvergleichliche Eruption.

Wenn Dylan als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, lösen sich Begriffe wie Pop und Rock auf, und man kehrt zum Wesentlichen zurück: Ein Dichter war immer ein Sänger, von allem Anfang an. Dieser amerikanische Dichter steht in der Tradition von Brecht („The Times They are A-Changin’“ soll auf das „Lied von der Moldau“ zurückgehen, in New York sieht der junge Bob ein von George Tabori eingerichtetes Brecht-Programm), T. S. Eliot, Arthur Rimbaud und den Bluessängern der dreißiger Jahre. Seine literarische Hauptquelle aber war die Bibel.

Einen Text zum 70. Geburtstag von Bob Dylan müsste man permanent zerreißen, neu beginnen, abstürzen lassen, umschreiben. So hat er es mit seinen Kompositionen gemacht, mit seinen Groß- und Kleinodien. Man höre nur, wie „Lay Lady Lay“ im Original auf „Nashville Skyline“ (1969) klingt und was damit sieben Jahre später beim Live-Mitschnitt auf „Hard Rain“ passiert. Die säuselnd-romantische Verführungsballade mutiert zur knalltrockenen, scheppernden Anmache. Die Ostermarsch- und Lagerfeuer-Hymne „Blowin’ in the Wind“ wird Ende der Siebziger auf dem „Budokan“-Album zur Schnulze mit Background-Dideldum. Viele seiner Songs haben irre Coverversionen durchgemacht, die von ihrem Erfinder selbst stammen. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. „He not busy being born is busy dying“, heißt das bei Dylan.

Es gibt den Dylan-Kanon, und es gibt den Künstler, der daraus seine Live-Acts bestreitet. Der müde wirkt, aber nicht müde wird. Von dem niemand weiß, was ihn da antreibt und hinaustreibt. „Ladies and Gentlemen, please welcome Columbia recording artist Bob Dylan.“ Wie lange schon die immer gleiche Ansage, nach der Fanfare von Aaron Copeland. Man kann die Uhr danach stellen. Er verspätet sich nie. Punkt Acht, und er ist auf der Bühne. Ist er es wirklich? Sind wir es noch, schon wieder?

Es gibt Lieblingsplatten. „Blood on the Tracks“ von 1974 zum Beispiel: all denjenigen empfohlen, die meinen, Dylan könne nicht singen, er sei nicht zu verstehen. Es gab nie ein zweites Album von solch kristallklarer Diktion und souveräner Phrasierung. Oder „Time out of Mind“, womit 1997 so etwas wie das Spätwerk beginnt. Darauf finden sich Lieder vom Sterben und von der Vergeblichkeit, dunkel wie Bilder von Max Ernst, elegant wie ein Vogel von Brancusi. Knapp und hart wie Beckett. In solchen Momenten lässt Bob Dylan alle hinter sich, die je versucht haben, mit einem Song und einem Instrument zur Wahrheit vorzudringen. Es ist die Stimme eines Muezzin, eines Rufers in der Wüste, irgendwo zwischen Las Vegas und Jerusalem. Und es gibt apokryphe Werke wie die „Basement Tapes“, aufgenommen mit The Band 1967 in einem Landhaus, nach Dylans Motorradunfall. Danach verschwand er für Jahre, wurde von den Medien für tot erklärt, erst klinisch, dann künstlerisch. Greil Marcus feiert die „Basement Tapes“ als „Laboratorium, in dem (...) fundamentale Grundzüge der kulturellen Sprache Amerikas wiedergefunden und wiedererfunden wurden.“ Es ist das dunkle, bizarre, archaische Amerika, wie man es in Martin Scorseses „Gangs of New York“ und in den Romanen William Faulkners antrifft.

Wer sich mit Bob Dylan beschäftigt, stößt auf die grundsätzliche Frage: Was ist ein Künstler? Was schuldet er der Gesellschaft und was schuldet sie ihm? Dass man sich kein Bild von ihm machen soll?

Bob Dylan ist zum Echolot einer Nation geworden. In der Autobiografie „Chronicles“ (2004) legt er die Wurzeln seiner Musik und Poesie frei. In seiner Radioshow spielte er verschüttete Songs aus einem Land, das manchmal viel älter erscheint als das alte Europa. Dylan Thomas, der walisische Dichter und Trunkenbold, nach dem sich Robert Allen Zimmerman benannt haben soll, starb übrigens 1953 in New York, mit 39 Jahren.

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