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Politischer Wandel in der Türkei: Wie aus dem Demokraten Erdoğan ein Diktator wurde

Recep Tayyip Erdoğan trat früher für eine pluralistische, zivile Demokratie ein. Warum wandelte er sich zum türkischen Nationalisten und autoritären Führer? Ein Gastbeitrag.

Wenn Journalismus heißt, von Berufs wegen Fragen zu stellen, dann lassen Sie uns gemeinsam Erdoğans Triumph nach der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahl am 24. Juni mit Fragezeichen versehen. Auf den ersten Blick scheint er nur ein Ereignis der türkischen Innenpolitik zu sein, aber er beschäftigt die ganze Welt. Am Montag wurde er als Präsident mit weitreichendem Machtzuwachs vereidigt, zuvor wurden per Dekret mehr als 18.000 Staatsbedienstete entlassen.

Fragen wir zunächst: Wie sind die „politischen Islamisten“ Anatoliens, des bevölkerungsreichsten Teils der modernen säkularen Republik, entstanden? Einst wurden sie als deren Stiefkinder behandelt, heute haben sie sich, von der Hoffnung auf eine neue gesellschaftliche Ordnung geleitet, zu einer faschistischen Gruppierung entwickelt.

Was ist mit dem Erdoğan passiert, der versprach, sich Tag und Nacht für eine pluralistische, zivile Demokratie einzusetzen und mit allen sozialen Schichten solidarisch zu sein, nachdem er an die Macht gelangt war? Wo ist der Erdoğan, der viele Veranstaltungen mit alevitischen Gemeinden organisierte, der immer wieder sagte, die sunnitische Unterdrückung der alevitischen Kultur müsse abgeschafft werden?

Und warum ließ ein Staatsmann, der einst mit PKK-Chef Abdullah Öcalan am Verhandlungstisch saß und einen kurdischen Fernsehsender gründete, im Februar dieses Jahres ein Massaker an den Kurden im syrischen Ost-Ghuta begehen? Wie konnte er zu einem autoritären Herrscher werden, der Selahattin Demirtae, den Co-Vorsitzenden der linksgerichteten, prokurdischen HDP und viele andere Abgeordnete dieser Partei in Gefängnisse sperrte? Was verdanken wir seiner Verwandlung in einen Tyrannen, der zehn kurdische Städte auf Google Earth ausgelöscht, Tausende Menschen ermordet und Hunderttausende ins Exil geschickt hat?

Wie ist er zum Despoten geworden?

Wann verwandelte sich Erdoğan in einen Fundamentalisten? Unterstützt er jetzt den IS? Wie ist er ein Despot geworden, wenn er doch mit Blick auf die letzten 150 Jahre türkischer Geschichte ein wichtiger und moderner Akteur war? Er hat gefordert, den eingefrorenen EU-Beitrittsprozess des Landes wiederaufzunehmen.

Die Wege Erdoğans und die der westlichen Länder begannen in unterschiedliche Richtungen zu führen, als der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach. Es war die Zeit, in der die AKP-Abgeordneten noch sagten: „In nicht mehr als drei Monaten gehen wir zu Assad und beten in der Damaskus-Moschee zusammen.“ Damaskus ist schon lange nicht mehr so nah, wie es einmal hieß.

Weil Erdoğan das Prestige, das er in der islamischen Welt besaß, mit seinem vor diesem Spiegel vergrößerten Ego verband, konnte er die Ablehnung durch den Westen nicht verdauen. Daraufhin beschloss er, selbst Spielmacher auf dem großen geopolitischen Feld zu werden. Um Assad zu stürzen, suchte er die Nähe zur syrischen Opposition. Es waren turbulente Zeiten: Die Vertreter der „Freien Syrischen Arme“ traf man in jenen Tagen in Istanbul nur mit Polizeischutz an. Zugleich erhielten dschihadistische Gruppen Lastwagenladungen mit Waffen aus dem Inventar der türkischen Armee.

Es dauerte nicht lange, bis das herauskam. Ausgerechnet die Mitglieder der Gülen-Bewegung, die er selbst einst auf ihre Positionen im Staatsapparat platzierte, verrieten ihn. Gleichzeitig wurden die Kurden nach und nach zu den wichtigsten Gegenspielern jener Terrorgruppen, die sich in der Region unter dem Dach des IS vereinigt hatten.

Oppositionelle werden als Verräter und Terroristen markiert

Erdoğan stand damit vor einer entscheidenden Frage: Halte ich mich im Kampf gegen Assad fortan lieber an die Kurden oder an die Islamisten? Er wählte die letztere Option. Lange Zeit hatte ihn die Präsenz des IS an den türkischen Grenzen kaum gestört. Als aber die Kurden den Kampf gegen den IS in der Region um Kobanê gewannen, war es mit Erdoğans Geduld vorbei. Dem gefährlichen Spiel, das er nun offen spielte, gab er den Namen: „Der große Osmane kehrt zurück.“

Also: Schluss mit dem Kurdenproblem – jetzt gibt es nur noch Terroristen! Schluss mit den Befindlichkeiten der Laizisten – sie sind Putschisten! Schluss mit der Anbindung an den Westen – jetzt gibt es nur noch Hass gegen die Mentalität der Kreuzritter! Schluss mit dem Aleviten-Problem – jetzt kämpfen wir für die gemeinsame Sache des Islam! Schluss mit der Litanei der freien Presse – jetzt sind alle Journalisten Spione!

Endlich haben wir in der Türkei einen einzigen Staat, eine einzige Flagge, eine einzige Sprache, eine einzige Ideologie und einen einzigen Führer. Wer sich dagegen ausspricht, ist ein Vaterlandsverräter und Kollaborateur des Westens.

Heute ist er einer der reichsten Staatsführer der Welt

Erdoğan ist allerdings nicht nur ein Spielmacher, sondern auch ein Verbrecher, der sich vor einer Verurteilung fürchtet. Während seiner Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul hielt Erdoğan einst seinen goldenen Ehering in die Kamera und sagte sinngemäß: Das ist mein gesamtes Vermögen. Solltet ihr eines Tages mehr als einen Ehering sehen, dann wisst ihr, dass es Harem (Sünde) ist. Heute ist er einer der reichsten Staatsführer der Welt. Und während die Mitglieder seiner Familie und sein Umfeld zu kapitalstarken und korrupten Geschäftsleuten avancieren, die das ganze Land in eine riesige Baustelle verwandeln und jede Fläche im öffentlichen Raum ausplündern, hat sich Erdoğan einen eigenen goldenen Palast gebaut.

Selbst als die Aufnahme eines Telefongesprächs zwischen Erdoğan und seinem Sohn Bilal auftauchte, in dem er diesen auffordert, das Geld, das noch im Haus verblieben war, zu verstecken, verteidigten ihn einige seiner Anhänger damit, dieses Geld sei „ganz gewiss für die gute Sache des Islam“ bestimmt gewesen.

Ein großer Illusionist wie Erdoğan ist jetzt in der Wahrnehmung seiner Anhänger und angesichts des türkischen Gesetzes unantastbar geworden. Wie alle autoritären Führer benutzte er einen durch Islamismus verhüllten Nationalismus, um die Massen zu trösten. Heute in unserem Land ist die Regierung, die Waffen in die Kriegszonen liefert, ein Held, aber die Journalisten, die darüber berichten wollen, sind Verräter. Während dies auf offener Bühne stattfindet, werden dahinter Geldbündel verteilt.

Sollen wir die Abgeordnetenverteilung im Parlament nach der Wahl 2018 und die Hoffnungen der kemalistischen Oppositionellen in der neuen Parlamentszeit besprechen? Reden wir nicht um den heißen Brei herum: Nein. Bis hierhin habe ich zu erklären versucht, dass Erdoğan ein Diktator ist, der auch die letzte Wahl gestohlen hat. Wenn die gesellschaftliche Gegenwehr stärker wäre, würde er seine paramilitärischen Kräfte auf die Straße schicken.

So lange er die weltweite Legitimation als Politiker hat, wird er weiterhin unser Albtraum sein. Ich halte es nicht für sinnvoll, eine richtige Wahlanalyse zu schreiben, da das Gericht meines Landes entschieden hat, dass ich ein Terrorist bin und in der Türkei bis zu meinem Lebensende im Gefängnis bleiben soll.

Hayko Bağdat, 1976 in Istanbul geborgen, ist ein türkisch-armenischer Journalist, Autor und Kabarettist, der nach dem Putschversuch in der Türkei 2016 nach Berlin floh. Er gehört zu den Fellows des Senatsprogramms „Weltoffenes Berlin“. Sein Stück „Die Schnecke“ war im Mai 2017 am Maxim Gorki Theater zu sehen.

Hayko Bağdat

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