Farbfotografie vor 1914 im Martin-Gropius-Bau: Wie ähnlich wir einander sind
Der Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt sensationelle Farbfotografien aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. In Auftrag gegeben wurden sie von einem französische Mäzen, der ein Archiv des Planeten anlegen wollte.
Wer genug Mut und Neugier besaß, einen Hochschulabschluss hatte und etwas Glück, der konnte Anfang des 20. Jahrhunderts die Mittel erhalten, ein ganzes Jahr lang um die Welt zu reisen. Stifter des Stipendiums „Bourse autour du monde“ der Universität Paris war der Bankier Albert Kahn. 1860 im Elsass als Abraham Kahn und ältester Sohn eines jüdischen Händlers geboren, war er mit Anfang dreißig bereits einer der reichsten Männer Frankreichs. So stark war der Glaube des Mäzens an eine brüderliche Menschheit, die zur Maxime der Französischen Revolution gehörte, dass er hoffte, seine studierten Weltreisenden würden zu Botschaftern des globalen Friedens.
Intensiver noch verfolgte Kahn sein Ziel in Farbe: Fotografien von Erdbewohnern aus allen Kontinenten sollten das Gemeinsame der Menschheit im Wortsinn vor Augen führen. Aus aller Welt sollten fotografische Emissäre farbige Eindrücke anderer Erdbewohner mitbringen. Jeder würde daraus ersehen, wie ähnlich wir alle einander sind. Denn überall auf der Welt tun doch Leute dasselbe. Sie sind jung und werden älter, sie essen, schlafen, kleiden sich festlich, tanzen, heiraten, ziehen Kinder groß. Sie bestellen Felder, bauen Straßen, Häuser und Brücken. So entstand eine sensationelle „visuelle Enzyklopädie“, aus der die Ausstellung „Die Welt um 1914. Farbfotografie vor dem Großen Krieg“ im Berliner Martin-Gropius-Bau in Berlin, ein Kooperationsprojekt des Landschaftsverbandes Rheinland in Bonn, jetzt eine große, repräsentative Auswahl zeigt.
Viele der Aufnahmen sind zum ersten Mal seit 100 Jahren öffentlich zu sehen. Neben Bildern aus der Sammlung Kahn enthält die Ausstellung auch Fotografien von Sergej Prokudin-Gorskii (1863– 1944), der – erstaunlich nah am sozialistischen Realismus – das späte zaristische Russland dokumentierte, sowie Fotos von Adolf Miethe (1862–1927), dem Erfinder des Dreifarbendrucks, dessen „Kaiserpanoramen“ deutsche Landschaften vorführten, unter anderem auf der Weltausstellung in St. Louis.
Obwohl ebenfalls beachtenswert, werden die beiden flankierenden Sammlungsauszüge von der Auswahl aus „Les Archives de la planète“ fast an den Rand gedrängt. 1909 hatte Kahn in Japan, auf einer Geschäftsreise mit seinem Chauffeur und Fotografen Alfred Dutertre, die Macht der Diapositive entdeckt und beschlossen, sie zum Mittel seiner Mission zu machen. An allem Neuen interessiert war Kahn, der parallel zur Bankkarriere Philosophie und Jura studiert hatte, hingerissen vom Autochromverfahren der Brüder Auguste und Louis Lumière und den Möglichkeiten, visuelle Wirklichkeit farbgetreuer wiederzugeben.
1912 legte der Philanthrop in Boulogne bei Paris den Grundstock zu einer Sammlung, die nichts mehr und nichts weniger enthalten sollte als eben die Archive unseres Planeten. Kahn stiftete zu dem Zweck einen Lehrstuhl und bestellte mit Jean Brunhes einen wissenschaftlichen Direktor für das Projekt. Der entsandte Fotografen und Filmcrews in 48 Länder rund um die Erde, wo sie bis 1931 über 72 000 farbige Diapositive herstellten und mehr als 100 Stunden Film. Als Botschafter des Bildes sollten sie die Bilder selber zur Botschaft machen. Sie lichteten Brücken und Brunnen auf dem Balkan ab, Fischverkäuferinnen in Irland, Segelboote in Ägypten, Gläubige vor türkischen Moscheen, Straßenkinder in Cornwall, Bauern in China, Reiter in der Mongolei. Das „Projekt einer Humangeografie in Bildern“, wie die Historikerin Iris Schröder es nennt, schien schier unerschöpflich. In ihrem universellen Anspruch spiegeln die – allein technisch bedingt eher konventionellen und gestellten – Aufnahmen zugleich den Größenwahn des kolonialen Projekts des Imperialismus wie den humanistischen Einspruch gegen eben dieses Projekt.
Wie im bilderreichen Katalog angemerkt wird, zeugte das Projekt mit seinem Gestus des globalen Zugriffs durchaus auch von einer Melange aus Avantgarde und Aggression. „Les Archives de la planète“ war auf alle Fälle die materialisierte Idee einer Völkerverständigung. In der Ära des Wettrüstens und der kolonialen Wettläufe sollte sie all dem Einhalt gebieten, was schon in der Luft lag. Kahn und seine Mitstreiter wollten mit ihrem so empathischen wie emphatischen Panorama der Menschheit die Geschichte aufhalten. Ihr von Henri Bergson, einem Freund Kahns, beeinflusstes Menschenbild verwahrte sich gegen die typischen Rassismen und Determinismen der Zeit. Wir Menschen, die überall gleich sind, sollten die Welt-Bilder suggerieren, verantworten selber den Lauf der Geschichte, wir haben es in der Hand, Frieden zu schaffen.
Doch der große Krieg brach aus; Kahns Bildbotschafter holten dann, der Chronistenpflicht nachkommen, auch aus den Schützengräben ihre Fotografien. Als der Zweite Weltkrieg folgte, war Albert Kahn bereits durch die Weltwirtschaftskrise ruiniert; 1940 starb er im von der Wehrmacht besetzten Frankreich. Er soll, sagten Weggefährten, bis zum Schluss trotzdem Optimist gewesen sein.
Zu Kahns Nachlass zählen nicht nur die vom französischen Staat bewahrten „Archives“, sondern auch seine Villa und sein Garten, beides zu einem Museum in Boulogne-Billancourt bei Paris vereint. Den Garten hatte Kahn, darin ebenso feudaler Utopist wie kosmopolitischer Romantiker, mit Bäumen, Sträuchern und Blumen aus allen Kontinenten bepflanzen lassen. Er sollte einen Mikrokosmos darstellen, der lebendig demonstriert, wie auch im Makrokosmos alles friedlich miteinander gedeihen kann.
Desiderat des Kahn-Legats bleibt eine Onlinedatenbank, die den Zeitgenossen globalen Zugriff auf „Les Archives de la planète“ bieten würde. Dass dieses historische Archiv noch nicht in seiner Gesamtheit allen Interessierten zugänglich ist, scheint dem freigiebigen Denken des Sammlers zu widersprechen. Einstweilen füllt, neben dem Katalog zu dieser Ausstellung, ein vom Verlag der BBC herausgegebener Bildband „The Wonderful World of Albert Kahn“ nur ansatzweise diese Lücke. Dem Gropius-Bau jedenfalls gelingt es unbedingt, die Neugier auf dieses wiederentdecke Weltarchiv zu wecken.
Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 2. November 2014, Mi – Mo 10 – 19 Uhr, dienstags geschlossen Katalog 24,80 €.
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