Kultur: What a wonderful town
Rattle, Petrenko, Barenboim: Silvesterkonzerte von Berlins Philharmonikern, Staatsoper und Komischer Oper
Christopher Street Days in der Philharmonie! Dass sich Simon Rattle etwas Ungewöhnliches für sein erstes Silvesterkonzert als Chef der Berliner Philharmoniker ausdenken würde, war klar. Als dann aber der Bigband-Sound von Leonard Bernsteins Musical „Wonderful Town“, das die Christopher Street in Greenwich Village zum Schauplatz einer Hommage an die New Yorker Bohème macht, durch Scharouns heilige Halle fetzte, zuckte so mancher überrascht zusammen.
Da waren Claudio Abbados feingeistig austarierte Themenabende zum Jahresende etwas anderes. Sicher, manchmal hätte man sich das Silvesterkonzert, das ja auch ein gesellschaftliches Event ist, unter dem italienischen Maestro etwas geschmeidiger, leichtfüßiger gewünscht – hier nun gab’s Entertainment pur: Rattle, der stets sein Ziel vor Augen hat, aus den Philharmonikern ein Orchester des 21. Jahrhunderts zu machen, setzt auf Heiterkeit – und auf Risiko. Denn weder Bernstein, Gershwin noch Kurt Weill haben seine Musiker drauf, das sind fremde Klangwelten für die Philharmoniker.
Um so entschlossener stürzen sich Dirigent und Instrumentalisten also in ein live von Radio und TV übertragenes Experiment: Und das geht zunächst erst einmal ziemlich schief. Denn Rattle fordert in Bernsteins „Candide“-Ouvertüre derart rasante Tempi, wie sie selbst das beste Orchester der Welt nicht hinbekommen kann. Da führt das Aufwärmstück eher zu Verkrampfungen. Und auch die Gesangssolisten wirken übernervös, singen ohne Grund mit Überdruck – bis Audra McDonald kommt.
Drei Gershwin-Songs braucht sie, um von ihrem Standort hinterm Orchester mit dem Saal locker zu flirten. Großzügig kokette Blicke verschenkend, zelebriert sie Broadway-Eleganz, gurrt und lockt, bis der Swing beim Step-Intermezzo aus „Fascinatin’ Rhythm“ endlich auch auf die Orchestermusiker überspringt. Danach geht alles ganz einfach: Die Nummernfolge aus Bernsteins 1953 uraufgeführter „Wonderful Town“ serviert Rattle mit der Besetzung seiner 1999er CD-Aufnahme. Mrs. McDonald, Thomas Hampson, die entfesselte Klamauknudel Kim Criswell und der von Simon Halsey bestens präparierte Profichor „European Voices“ stürzen sich in eine halbszenische Aufführung, die Philharmoniker spielen sich – hilfreich unterstützt vom Jazzpianisten Wayne Marshall und dem Rascher-Saxophonquintett – immer freier, bis zum Schluss das Unglaubliche passiert: Eine Polonaise aus Solisten und Besuchern tanzt durch die Philharmonie. Happy new ears, Sir Simon!
Ein Kurkonzert für die silvestergestressten Seelen hat an der Ko mischen Oper zum Jahreswechsel Tradition. Dabei lässt es sich Kirill Petrenko , der neue GMD, nicht nehmen, auch den Conferencier selbst zu machen – mit dem Charme seines Akzents, den ihm die Geburtsstadt Omsk mitgegeben hat. Wo es um Operetten von Lehár geht, deren Inhalt er listig resümiert, bleibt am Ende immer das Stichwort „Entsagung“, wobei das Auge des Maestros blitzt. Über die sensationellen Gerüchte aus dem Privatleben des Königs der Geiger, der als Operettenpaganini – „Gern hab ich die Frau’n geküsst“ – seine erotische Vielseitigkeit besingt, wird sich allerdings kaum jemand Gedanken machen, wenn er den Heldentenor des Konzerts gewahrt: Jürgen Müller, neues Ensemblemitglied des Berliner Hauses mit vorauseilendem Ruhm als Siegfried am Meininger Theater, nimmt das Operettige der Lehár-Titelrolle so tief seriös, als müsste er die holde Kunst schlechthin verteidigen. Ein bisschen mehr Sahne dürfte bitte schon sein. Auch seiner Partnerin Maria Bengtsson, die als Giuditta von ihren heißen Lippen schwärmt, glaubt man die mondäne Frau nicht ganz. Im Duett der beiden verbindet sich eine Aura von Gesangswettbewerb mit dem Sehnsuchtsblick zur Oper, musikalisch legitim im „Land des Lächelns“, das am Vorgängerhaus der Komischen Oper, dem Metropoltheater, 1929 uraufgeführt worden ist. Ein bisschen Strauß (Eduard, Josef und Johann), ein bisschen Dvorák, ein bisschen Fucik: In der „Brummbär“-Polka spielt Reinhard Bastian seinem gut aufgelegten Orchester ein elegantes Fagottsolo vor. Die Armee bereitet in den Kompositionen des Genres so ungetrübtes Vergnügen, dass dem volkstümlichen Heerführer Radetzky in dynamischer Abstufung zugeklatscht wird. Petrenko hat die Musik wie das Publikum in der Hand. Sybill Mahlke
Die ersten Raketen recken bereits gegen sechs Uhr ihre Sehnsuchtsärmchen in die Nacht. Draußen klirrt die Kälte, zerrt der wilde Ostwind an den Sternbildern. Polizisten in allen erdenklichen Formationen säumen die Straßen, Jugendliche erklären Unterführungen und Toreinfahrten zu ihren bevorzugten „Kriegsschauplätzen“, beschießen sich mit Krachern und Böllern. Brandgerüche. Auf der Silvestermeile der Silvestermeilen, zwischen Goldelse und Friedrichstraße, tobt „das Leben“: Discomusik, Lichterspiele, Schwaden von Gebratenem. Wer dies alles meiden will, aus Angst vor dem Lärmigen, massenhaft Grellen oder weil darin fürs eigene Gefühl so wenig Kraft zur Veränderung liegt, der hat’s schwer. Schleichwege sind einzuschlagen, um einigermaßen heil zur Staatsoper Unter den Linden zu gelangen, längere Zeiten einzurechnen, ja überhaupt: jeglicher Anachronismus, alles Querständige wehrhafter zu verteidigen als sonst.
Glücklich am Ziel angelangt, schaut man in fremde Gesichter. Lauter Menschen, die so gut wie nie ins Konzert gehen und ihr Gewissen einmal im Jahr erleichtern wollen – und dann, bitteschön, mit Beethovens Neunter, der deutschen Schicksalsmusik schlechthin, bis hin zum Berliner Mauerfall? Ein redliches Ansinnen. Eines, das durchaus gewillt wäre, sich neu ergreifen und erschüttern zu lassen von Schillers „Alle Menschen werden Brüder“, jenem Vers, den die Welt Jahr für Jahr aufs Neue und fast hämisch ad absurdum führt.
2002, so hatten es die Kommentatoren allüberall verkündet, sei ein schlechtes, ein katastrophisches Jahr gewesen. Auch die Berliner Staatskapelle und ihr Chef schienen von dieser Stimmung(smache), sagen wir, zumindest affiziert. Nicht dass ausgerechnet Daniel Barenboim , der Humanist und Völkerverbinder, nun den Unglauben in Klang setzte, den pochenden Zweifel am Idealismus dieser Sinfonie. Das Zeitlupentempo aber und das schier fünffache Pianissimo, in dem Bässe und Celli das „Freude schöner Götterfunken“-Thema intonierten, und der regelrecht Orff’sche Kehraus im Finale desselben Satzes, jenes blitzende Tschingdarassabum, das allen Weltschmerz übertönt, sie wiesen doch in diese Richtung.
Die Amplitude ist groß, wollte Barenboim wohl sagen, bei Beethoven nicht anders als in der Wirklichkeit - und selbst uns Künstlern wird zusehends schleierhaft, wie die Dinge jemals wieder miteinander vermittelt, ja versöhnt werden sollen. Das Adagio: eine Idylle ganz ohne Gefährdung, bisweilen mit schöner Ausführlichkeit in den Details, aber letztlich nicht sprechend. Der zweite Satz: ein ruppiges Räderwerk ohne Leichtigkeit, dafür mit gefühlvoll ausgekostetem Trio-Schluss. Und der Kopfsatz: bedeutungsschwanger, aber mit wenig Spannung, wenig Wollen musiziert zwischen den leeren Quinten der Einleitung und den orgiastischen Handkantenschlägen des Hauptthemas.
Solisten (Angela Denoke, Simone Schröder, Thomas Moser, Hanno Müller-Brachmann) wie Staatsopernchor schlugen sich im akustischen Mustopf der zum Konzertpodium umfunktionierten Staatsopernbühne sehr wacker. Jahresendzeitapplaus. Dann wieder raus in die krachende Kälte. Von solcher Kunst gehen keine Revolutionen aus, denkt man und schlägt sich den Schal vors Gesicht. Christine Lemke-Matwey
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