Lido-Lichtspiele (1): "Beasts of No Nation": Wettbewerb in Venedig beginnt mit Kindersoldaten-Film
Gleich zu Beginn der Filmfestspiele Venedig wird die Mostra politisch. Mit dem ersten Wettbewerbsfilm "Beasts of No Nation" - und dem Statement von Jury-Präsident Alfonso Cuarón zur europäischen Flüchtlingskatastrophe.
Gefilmt wurde in Ghana, mit leichter Verzögerung, weil Regisseur Cary Fukunaga noch vor dem ersten Drehtag an Malaria erkrankte. „Beasts of No Nation“ eröffnete am Donnerstag den Wettbewerb des 72. Filmfests Venedig, ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnliches Drama über eines der grausigsten Phänomene in den Kriegen dieser Tage, über Kindersoldaten. Abu (Abraham Attah) wird im Bürgerkrieg von Rebellen entführt und zum Söldner trainiert. Gleich seinem ersten Opfer muss der Junge mit der Machete den Schädel spalten. Atavistische Stammesrituale, Panik, Trance, Blutrausch: Das Morden wird nicht beschönigt.
Die spekulative Erzählweise des Films, die dröhnenden Sounds und psychedelischen Farbeffekte werden jedoch nur selten zum Selbstzweck. Die Zurichtung von Kindern zu Massenmördern, die Deformation politischer Rebellen zu verrohten Brutalos bleibt nachvollziehbar. Hier sind alle Täter und Opfer zugleich.
Die Lowbudget-Produktion macht am Lido aber vor allem deshalb Furore, weil die Streaming-Dienst Netflix sie weltweit herausbringt. Der US-Start ist auf den 16. Oktober terminiert, zeitgleich in Arthouse-Kinos und im Internet. Das gab es noch nie, gewöhnlich müssen sich die Verleiher an Zeitfenster halten: Erst 90 Tage nach dem Kinostart darf ein Film in den USA anderweitig ausgewertet werden. In Deutschland beträgt die Regelfrist für öffentlich geförderte Filme sechs Monate. Netflix schert sich nicht drum, verdient die Film- und Serien-Plattform ihr Geld doch vor allem mit Abonnements.
Junges Publikum vom Zappen abhalten
Ein Testlauf, dirigiert von TV-Serien-Profis. Regisseur Fukunaga hat sich mit der ersten Staffel der HBO-Serie „True Detective“ einen Namen gemacht, „Wire“-Star Idris Elba spielt den mephistophelischen Rebellenkommandanten und firmiert als Koproduzent. Kein Wunder, dass der Film dick aufträgt und sich Freiheiten nimmt, wie bei den fantastischen Hippie-Uniformen der Kindersoldaten. Er ist weniger für die große Leinwand gemacht als für den Bildschirm und die mobilen Monitore der Tablets und Smartphones. Die Macher von „Beasts of No Nation“ wollen ein junges Publikum fesseln, es vom Zappen abhalten.
Die Mostra wird politisch, gleich zu Beginn. Jury-Präsident Alfonso Cuarón („Gravity“) fordert bei der Eröffnung als „Mexikaner, der in Europa lebt und sich hier immer willkommen fühlte“ die gleiche Willkommenskultur für die Flüchtlinge heute. Und auf „Beasts of No Nation“ folgt der außer Konkurrenz gezeigte Journalistenfilm „Spotlight“, mit Michael Keaton, Mark Ruffalo und Rachel McAdams als „Boston Globe“-Rechercheteams, das 2001 die jahrzehntelang vertuschten Missbrauchsskandale der katholischen Kirche aufdeckte.
Hier das Internet, dort die guten, alten Zeitungsreporter. Hier die individuelle Tat, dort der systematische Rechtsbruch einer mächtigen Institution. Hier der emotionale Thrill, dort die solide, nicht minder packende Dramaturgie des Enthüllungsthrillers. Digital? Analog? Wer ein Anliegen hat, dem sind alle Mittel recht.