Moritz Rinke am Deutschen Theater: "Westend" - Ehekrieg als Bürgerkrieg
Auf der Folie von Goethes "Wahlverwandschaften" ein jetziges Bild der Bürgergesellschaft. Mit etwas Weltende und einem glänzenden Ulrich Matthes. Eine Kritik.
Es geht schon zum Ende hin, da sagt Charlotte, eine klassische Sängerin, sie sei aus der Schöpfung geflogen. Gemeint ist das Haydn-Oratorium „Die Schöpfung“, und Charlotte sollte in der Philharmonie die Eva im Paradies singen. Jetzt bleibt ihr nur noch das Amen im Schlusschor. Eine „Scheißrolle“. Amen. „Das war’s.“ Eduard, Charlottes Mann, ein Schönheitschirurg, meint (wie) zum Trost: „Dann hast du immerhin das letzte Wort.“
Natürlich ist die halb spöttische, halb mitfühlende Bemerkung Eduards, gespielt von Ulrich Matthes, ein Lacher. Und die kleine Szene trifft den großen Kern von Moritz Rinkes neuem Stück „Westend“, dessen Uraufführung Stephan Kimmig jetzt am Deutschen Theater Berlin inszeniert hat. Einerseits geht’s bei Charlottes Rauswurf aus der „Schöpfung“ nur um eine banale Umbesetzung im Kulturbetrieb. Doch symbolisch schwingt auch die Vertreibung aus dem Paradies des ewigen Lebens, der ewigen Liebe gar und die heute ganz anders gefährdete Schöpfung mit.
Derart spielt Moritz Rinkes zehntes Theaterstück auf und mit doppeltem Boden. Eduard und Charlotte, die sich unter anderem vom Verkauf einer Goethe-Zeichnung eine gerade zu renovierende Villa im berlinisch-bundesrepublikanischen Westend geleistet haben, sie kommen namentlich und motivisch auch aus Goethes vor exakt 200 Jahren erschienenem Liebes-Ehebruchsroman „Wahlverwandtschaften“.
Rinke hat indes keine modische „Übermalung“ des Vorbilds gefertigt, sondern auf dessen Folie ein eigenes, jetziges Bild entworfen: einer sich in wechselnden Paarungen, in Ehekriegen, Liebesverlust, Neuverliebtheit oder auch Wiederbegehren wie „wahlverwandte“ chemische Elemente anziehenden und abstoßenden Bürgergesellschaft. Aus Goethes Otto und Ottilie, dem zweiten Paar, sind 2018 weitere Figuren geworden: Michael, der aus dem afghanischen Kundus derangiert heimgekehrte Arztkollege und Trauzeuge Eduards, welcher sich nicht sehr überraschend als Charlottes Liebhaber erweist; oder Lilly, die Tochter des polygamen Nachbarn und Filmregisseurs Marek (dessen Frau, Lillys Mutter, hat hier einst Selbstmord begangen). Die junge Lilly ist zugleich Eduards erst halbwegs heimliche Geliebte, doch dazu gibt’s noch Eleonora, eine russisch-amerikanische Dame, Lebensgefährtin von Marek und Schönheitspatientin, wenn nicht gar mehr, auch wieder von Eduard. Alle und alles Zeugen und Zeugnis der neuen Unübersichtlichkeit.
Zwischen pointiertem Boulevard und poetischer Tragik
Die Beziehungen passen längst nicht mehr in die alten Kisten. Und im „Westend“ treffen am Ende auch Särge ein. Kindersärge – das hat mit einer misslungenen Rettungsoperation Michaels, des Arztes ohne Grenzen, in einem Kriegskrisengebiet zu tun. „Westend“? Ein Hauch Weltend klingt an – und die Grenzen der westlichen Macht und Selbstgewissheit. Der alten Westwerte. Einmal brüllt der Kundus- Heimkehrer Michael heraus, der Islamismus sei auch eine Antwort auf den Westen, ihn würde „es ohne uns in dieser Form gar nicht geben“. Und Charlotte, Haydns Paradiesfrau, schreit in Gestalt der bisweilen eine Spur zu melodramatisch agierenden Schauspielerin Anja Schneider: „Die Welt fällt auseinander, und wir geben Rezitative und Arien...“ Banal? Real. Auch ein Künstlerstück, ein Kunstdrama. In schönem Rahmen.
Stephan Kimmigs Bühnenbildnerin Katja Haß hat eine leere weiße Halle mit ein paar seitlichen Gängen, Nischen, Fenstern gebaut und einer kreisrunden Dachöffnung wie eine Himmelskuppel. Das hat etwas von Palladio, zeigt neoklassizistische Kälte und Anmut, deutsche Südenssehnsucht hin ins Offene, mit einer Anspielung auch auf die surrealen Geometrien eines de Chirico. Passt sehr gut.
Stephan Kimmig, der zum wiederholten Mal eine Rinke-Uraufführung inszeniert, bietet dieses Ambiente die Möglichkeit, einzelne Szenen effektvoll zu lebenden Bildern zu arrangieren, in denen die sechs Akteure manchmal wie Figuren, wie Skulpturen in einem Museum kurz verharren. Ein wenig schief, gebrochen, erstarrt, verzaubert. Oder verdammt.
Rinkes kluges, freilich auch viel riskierendes, weil mehr auf die Psychologie der Wechselreden als auf Handlung und äußere Dramatik setzendes Stück, es bedarf auf der Bühne wohl einer Mischung aus nuancierender Behutsamkeit und entschiedenem Zugriff. Kimmigs Inszenierung schwankt da. Zwischen Feinheit und Grobheit, Halbmut und Demut. Dieses „Westend“ grenzt mal an Botho Strauß, mal an Yasmina Reza (beide beste Nachbarn). Doch der Spagat zwischen pointiertem Boulevard und poetischer Tragik spreizt sich in der mit Pause fast dreistündigen Aufführung oft recht weit und breit. Es gibt übertrieben lange Tanz(musik)einlagen, denen der choreografische Scharfsinn fehlt. Und überdehnte Pausen, in denen das, was bei Tschechow als Stille zum inneren Drama wird, hier eher als Loch erscheint.
Die beste Rolle hat Ulrich Matthes, sein Eduard glänzt
Was den Abend hält, heißt Ulrich Matthes, Linn Reusse und im zweiten Teil Birgit Unterweger. Die exilrussische Westend-Amerikanerin Eleonora, die man als etwas schlüpfriges Opfer der männlichen Schönheitschirurgie erwartet, wird bei Birgit Unterweger zur starken, charmant anrührenden Frau. Mit einem fabelhaft slawisch-guttural tonierten englischen Akzent. Und das junge Mädchen Lilly macht Linn Reusse zur eigentlichen weiblichen Hauptrolle.
Ihr Begehren, ihre Wut, ihren Schmerz als mutterlose Tochter ohne verantwortlichen Vater spielt sie souverän als allein unerzogene Selbsterzieherin. Noch am Boden liegend, gehören ihr einige der schönsten Rinke-Sätze: „Die Liebe war früher irgendwie in der Waagrechten, aber jetzt ist sie in der Senkrechten, sie hat sich aufgerichtet wie die Titanic kurz vor dem Untergang. Die Menschen fallen jetzt aufeinander zu, fallen durch die ganzen Portale, Börsen, Apps..., dann stürzt man dem nächsten in die Arme oder gleich auf den kalten Meeresgrund.“
Die beste Rolle hat freilich Ulrich Matthes. Seinem Eduard fehlt nur in Paul Grills Michael der ebenbürtige Partner und eigene Spiegel. Eduard operiert Alternde für die erhoffte ewige Schönheit, Michael Kriegskinder zum schieren Überleben. Aber das klingt so zu einfach, zu idealistisch, da wäre in dem weitgereisten, beziehungsflüchtigen, selbst zu Gewalt neigenden Mann Michael doch Widersprüchlicheres zu entdecken. Etwas, das Anja Schneiders Charlotte verführt, ihn so gierig am Hintern zu packen. Von Kostüm und Habitus ist hier aber nur ein Biedermann gezeichnet. Anders als Andreas Pietschmanns altyuppiehafter Regisseur Marek, von dessen Fadenscheinigkeit etwas abzuhaben, dem zu eindimensionalen Krisenarzt gutgetan hätte.
Glänzend dagegen Ulrich Matthes: ein Schwärmer und Schwieriger, medizinischer Konjunkturritter und doch Menschentröster. Ungeheuer und Liebhaber, der als Schönheitschirurg sagt, dass die westliche Staatsform heute „der Narzissmus“ sei. Matthes offenbart das brillant, erotisch attraktiv, zynisch, zärtlich, manchmal nur mit einem Seitenblick, winzigem Fingerzeig, präsent auch ohne Text. Er hält immer entspannt die Spannung. Als Goethes, Rinkes und sein eigener Wahlverwandter.
Wieder am 28. und 31. 12. sowie 5., 13. und 28.1.
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