Ken Loach: Wer weiß, ob wir zu retten sind?
Der britische Regisseur über die Finanzkrise, moderne Sklaverei – und seinen Ausflug in die Politik.
Mister Loach, Angie, die Hauptfigur in „It’s a Free World“, ist eine Ihrer komplexesten Heldinnen. Sie ist mutig, kämpferisch, lässt sich nichts gefallen – und gerät doch in ein System, in dem sie zur Ausbeuterin wird. Was ist schiefgegangen?
Ihre Ziele waren ja richtig: Sie sucht Arbeit, will ihr eigenes Unternehmen aufmachen – aber um bei der Konkurrenz zu bestehen, muss sie billiger als die anderen sein. Und billiger zu sein heißt, Menschen zu engagieren, die für weniger Geld arbeiten als die anderen. So ist das Geschäft. Das ist der Geist unserer Zeit: die Marktwirtschaft bestimmt, wie wir leben müssen. Und wenn wir so leben, sind Menschen wie Angie das Ergebnis.
Wir sprechen hier zu einer Zeit miteinander, in der die globalen Finanzmärkte kollabieren. Was bedeutet das für den Arbeitsmarkt?
Nicht nur das Kapital kollabiert, sondern auch die Umwelt, die Sicherheit, die Klimaverhältnisse. Wir werden ganz sicher umdenken müssen, weg vom Profit, hin zur bloßen Erfüllung von Bedürfnissen. Aber wer weiß, ob wir überhaupt noch zu retten sind?
Kann man das Rad denn zurückdrehen? Globalisierung ist auf dem Arbeitsmarkt längst Alltag. Man hat das Gefühl, die halbe Welt ist auf der Reise, auf der Suche nach besserer Arbeit. Neulich im Flugzeug von Glasgow nach Berlin saßen zur Hälfte Polen, die fürs Wochenende nach Hause flogen, und deutsche Bauarbeiter, die offenbar in Schottland bessere Arbeit gefunden hatten …
Ja, es ist schon ein verrücktes System. Seit Polen in der EU ist, muss man weiter suchen, um wirklich billige Arbeitskräfte zu bekommen – aus der Ukraine zum Beispiel. Gleichzeitig gibt es die Politiker, die immer über den Wert der Familie sprechen – was für eine Heuchelei. All diese Immigranten haben ihre Familien zurückgelassen. Die Vorstellung, dass man seine Familie verlassen muss, um sie zu ernähren, ist doch grässlich.
Die Arbeitsbedingungen, die Sie zeigen, erinnern an moderne Sklaverei.
Absolut. Aber genau das war Margaret Thatchers Projekt: Arbeiter wieder in eine ähnlich prekäre Situation zu versetzen wie im 19. Jahrhundert. Keine Gewerkschaften mehr, keine Sicherheiten mehr: Darum ging es ihr. Natürlich ist das Ziel jetzt, die Arbeiter wieder zu stärken, aber das ist schwer, weil derzeit die meisten Wortführer ihrem Job einfach nicht gewachsen sind. Sie sind nicht stark genug, sie analysieren nicht richtig.
Eine wichtige Szene ist der Streit zwischen Angie und ihrem Vater. Er repräsentiert das klassische Gewerkschaftssystem und wirft ihr vor, sie würde die sozialen Grundsätze verraten. Eine altmodische Position?
Diese Werte sind nicht altmodisch. Das wird nur behauptet. Angie ist ein Produkt der Umwandlung Großbritanniens, die wir Margaret Thatcher verdanken. Die Gewerkschaften wurden attackiert, degradiert, für handlungsunfähig erklärt. Man sagte uns, wir müssten diese Werte vergessen. Aber ich glaube, es fühlen sich immer noch viele angesprochen.
Ihr Film kam in Großbritannien schon vor einem Jahr heraus – bezeichnenderweise zunächst im Fernsehen. Hat sich die Aufmerksamkeit gegenüber Schwarzarbeit und Ausbeutung seitdem erhöht?
Es gibt schon das Bewusstsein, aber es wird nicht darüber berichtet. Und daher denken wir, das passiert alles nicht. Wenn Journalisten sich für solche Themen interessieren würden – es gäbe eine Menge Leute, die bereit wären, darüber zu sprechen. Letzte Woche habe ich eine Frau getroffen, die in einem Altenheim arbeitete, das bislang von der Stadt unterhalten wurde. Sie wurde nicht gut bezahlt, aber es gab immerhin einen gesicherten Arbeitsplatz. Aber dann wurde das Haus privatisiert, sie hat ihren Job verloren und musste sich bei dem privaten Betreiber neu bewerben – zu schlechteren Konditionen: weniger Geld, längere Arbeitszeit. Nun streitet man sich. Und die EU fördert das noch mit der Vorgabe, dass möglichst alles privatisiert werden soll. Die EU ist neoliberales Projekt, sie ist nicht dafür erfunden worden, dass wir bequem in Urlaub fahren können und überall mit Euro bezahlen.
Angie entscheidet sich, illegale Arbeiter zu beschäftigen, als sie erfährt, dass Arbeitgeber, die bei so etwas erwischt worden sind, sehr milde oder gar nicht bestraft worden sind. Beruht das auf wahren Erfahrungen?
Es gibt ein Gesetz über Mindestlohn in Großbritannien, aber es wird nicht durchgesetzt. Dafür gibt es überhaupt keine Infrastruktur. Die Strafe, die in solchen Fällen verhängt wird, ist winzig. Die Heuchelei ist, dass die Regierung auf ausbeuterisch billige Arbeitskräfte angewiesen ist, um die Inflation niedrig zu halten. Die Nahrungsmittel im Supermarkt zum Beispiel sind nur so billig, weil die Immi granten so schlecht bezahlt werden. Würden sie anständig bezahlt, würden die Nahrungsmittelpreise erheblich steigen, die Lebenshaltungskosten würden sich erhöhen, jeder würde mehr Geld verlangen, Gehälter müssten erhöht werden, und schon wäre die Inflation da.
Und die Ausgebeuteten? Im Film gibt es Szenen, in denen sich Widerstand regt.
Wir hatten sogar eine Szene in dem Film, in dem die Arbeiter sich zum Streik entschließen. Wir haben das dann geschnitten. Nicht, weil es nicht realistisch gewesen wäre – es gab Fälle in Großbritannien, in denen illegale Arbeiter gestreikt haben. Aber es erschien uns ein bisschen zu offensichtlich. Aber das ist auch nicht der Punkt. Die eigentliche Verantwortung liegt bei den Gewerkschaften in den „Gastländern“. Sie müssen sich auch um die Arbeiter kümmern, die aus dem Ausland gekommen sind, und darauf bestehen, dass alle gleiche Rechte haben, gleiche Löhne, gleiche Konditionen. Dann sind die Immigranten auch nicht mehr so eine Bedrohung für den nationalen Arbeitsmarkt – weil sie nicht mehr billiger sind als die anderen.
In Ihrem Film spielen viele Immigranten mit. Wie haben Sie sie ausgewählt?
Es waren Tausende, die dabei sein wollten. Wir haben sie über eine Agentur ausgesucht, und natürlich waren alle sehr darauf erpicht mitzuspielen, weil wir vernünftige Filmlöhne gezahlt haben. Es war sehr spannend, mit ihnen zu reden, denn die Geschichten, die sie erzählten, ähnelten denen im Film stark. Nach Ende der Dreharbeiten sind sie wieder zurückgekehrt in die Unterwelt der illegalen Arbeit. Auch wir können diesen Kreislauf mit einem Film nicht grundsätzlich stoppen.
Sie kämpfen seit 20 Jahren gegen soziale Ungerechtigkeit. Werden Sie immer wütender, weil sich nichts ändert, werden Sie weicher, oder werden Sie bitter und resigniert?
Weicher ganz bestimmt nicht. Ich mache mir aber auch keine Illusionen darüber, dass Filme die Welt wirklich verändern können. Am Ende handeln alle guten Dramen und Filme von der conditio humana, der Verfasstheit der Menschheit. Ich weiß nicht, ob meine Filme von Wert sind. Für mich ist es der einzige mir gangbare Weg, um Fragen zu stellen und zu versuchen, die Menschen wütend zu machen oder auch nur aufmerksam. Aber wirklich ändern kann man Dinge nur durch politisches Engagement.
Sie selbst haben ja auch kandidiert, für George Galloways „Respect“-Partei.
Das war eine Wahl nach Listen, und die Namen unten auf der Liste hatten ohnehin keine Chance. Also habe ich dafür gesorgt, dass mein Name ganz unten stand. Es war eher als Unterstützung gedacht. Aber ich hatte einfach das Gefühl, dass es nicht reicht, nur Filme zu machen oder Bücher zu schreiben. Wenn man diese politischen Fragen thematisiert, dann hat man auch die Verantwortung, dafür einzutreten und die Sache durchzuziehen. Das heißt also: politisch tätig zu werden. Aber ich war doch froh, dass ich dann nicht gewählt wurde.
Sie behandeln in Ihren Filmen ganz ähnliche Themen wie die belgischen Dardenne-Brüder. Deren jüngster Film handelt von albanischen Immigranten in Lüttich. Tauschen Sie sich aus?
Ich schätze sie sehr. Aber wenn wir uns treffen, bei europäischen Filmveranstaltungen zum Beispiel, diskutieren wir mehr über Fußball.
Die Fragen stellte Christina Tilmann.
Ken Loach, 72, zählt zu Europas wichtigsten politischen Filmemachern. Einige seiner Werke: „Riff-Raff“ (1990), „My Name is Joe“ (1998), „The Wind that Shakes the Barley“ (2006).
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