Bossong-Roman "Gesellschaft mit beschränkter Haftung": Wer investiert, lebt
Nora Bossongs Roman über Aufstieg und Fall eines Frotteeimperiums.
Es könnte alles noch so in Ordnung sein, wie in jener so fernen Zeit der alten Bundesrepublik: Macht drückte sich in Körperlichkeit aus, in physischer Stärke, reiner Masse. Die Männer regierten, die Frauen repräsentierten. Kein einfaches Geschäft, beides nicht, aber wenigstens waren die Fronten deutlich erkennbar und die Rollen klar verteilt. Eine längst vergangene Epoche: „Zwischen dem zwanzigsten Jahrhundert und heute liegen nicht bloß, wie du denkst, zehn Jahre, sagte W.W. Wer der Zeit nicht voraus ist, hat schon verloren. Das zwanzigste Jahrhundert war spätestens neunzehnachtzig vorbei. Und danach ging alles so schnell, weil alles immer sehr schnell geht.“ In der Rasanz des Marktes und der Zeitenwenden ist die Firma Tietjen verloren gegangen, zusammengeschrumpft. Richtig groß war sie nie, doch eine der großen Stärken der Tietjens war es stets, sich selbst Stärke und Bedeutsamkeit zu suggerieren. Ein Lebensprinzip, das immerhin über zweieinhalb Generationen getragen hat.
Frotteewaren stellen die Tietjens her. Firmensitz Essen, rund 200 Angestellte, streng patriarchalische Strukturen. Nora Bossong erzählt in ihrem dritten Roman von Aufstieg und Fall eines Mini-Imperiums. Und von den Versuchen, sich dessen unheilvollen Einflüssen zu entziehen. Nicht die Menschen führen das Unternehmen, sondern umgekehrt: Die Firma saugt ihre Besitzer auf und lässt sie an den Fäden der Gesetzmäßigkeiten des Marktes tanzen. Die Weltgeschichte ist nur Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung. Den Grundstein für das Vermögen der Tietjens legt Firmengründer Justus, indem er 1918 einen Exklusivvertrag mit dem Heer abschließt – Tietjenfrottee für deutsche Soldaten. Justus' Sohn Kurt senior setzt die Tradition fort: In den Jahren des Nationalsozialismus macht er seinen Schnitt und bleibt trotzdem unauffällig; Jahrzehnte später taucht ein Tietjen-Handtuch mit eingesticktem Hakenkreuz auf, „da war es auch schon wieder verschwunden, so plötzlich wie es aufgetaucht war.“
Diese Vorgeschichte handelt Nora Bossong relativ knapp ab; der Konflikt, der sie tatsächlich interessiert, ist der zwischen der dritten und vierten Generation, zwischen Kurt junior und seiner Tochter Luise. Und ohne es auszusprechen, bildet Bossong in der Mentalität dieser beiden Figuren Bewusstsein und Mentalität der Nachkriegsgeschichte bis in die Gegenwart hinein ab. Kurt Tietjen nämlich, geboren 1953, ist keiner, der Macht an sich reißen und ausüben, sondern abgeben will. Kurt führt die Firma in einer Mischung aus Phlegma und Unfähigkeit an den Rand der Pleite. Dort lässt er sie stehen und verschwindet einfach; kommt von einer Geschäftsreise nach New York, wo er neue Absatzmärkte sondieren wollte, nicht mehr zurück; lässt seine Frau und die Tochter Luise in Essen zurück und den Betrieb in den Händen seines Schwagers, eines Fossils der sozialen Marktwirtschaft. Kurt Tietjen taucht ab und wird aufgesaugt; eine Sehnsucht nach Bedeutungslosigkeit treibt ihn an; „zum ersten Mal“, so heißt es, „hatte er keinen Namen, keine Macht, er trug sein Vermögen nicht vor sich her.“ Das Credo, das sein Vater ihm eingehämmert hatte („Wir sind nicht irgendwer. Wir verlieren nicht“) wendet Kurt freiwillig ins Gegenteil – endlich einmal irgendwer sein können. Aufgeben können.
Währenddessen holt Luise, Mitte zwanzig und Studentin der Philosophie, auch das eine Pointe, im Eiltempo an der Firma das Versäumte (also die Globalisierung) nach, verlagert Produktionsstätten, entlässt mit Hilfe konturloser, aber eiskalter Berater Dutzende von Mitarbeitern, verschleppt mit betrügerischen Mitteln die längst fällige Insolvenz und geht in ihrem Gefühlsleben in ökonomischen Zwängen auf: „Wer investierte, war nicht tot.“ In der Person der Luise kondensiert sich allerdings auch das Problem des Romans. Nora Bossong ist ohne Zweifel eine ausgezeichnete Erzählerin. „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ ist exakt und intelligent strukturiert, aber letztendlich unentschlossen. Die Intention des Textes schwankt zwischen einer Sammlung von Charakterstudien (die gegen Ende doch arg zu Stereotypen geraten) und Gesellschaftsporträt (das nicht deutlich genug konturiert ist).
Wer die Romane Ernst-Wilhelm Händlers kennt, allen voran den grandiosen „Fall“, oder auch Thomas von Steinaeckers in diesem Jahr erschienenen Roman „Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen...“, der tief in die gestörte Psyche der Arbeitswelt eindringt, wird für Bossongs Roman nur verhaltene Begeisterung aufbringen können. Bleibt der Weltflüchtling Kurt, eine starke Figur, die die Bedeutungslosigkeit gesucht und gefunden hat. Als Luise ihn zum letzten Mal besucht, sitzt seine Freundin, eine verhärmte, schlecht blondierte Frau in dem billigen Appartement in Brooklyn. Sie trägt einen Frotteebademantel. Von Tietjen, versteht sich.
Nora Bossong: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2012. 298 Seiten, 19,90 €.
Christoph Schröder
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