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Rebellin. Mariana Di Girolamo in der Titelrolle von Pablo Larraíns „Ema“.
© Filmfestspiele Venedig

Filmfestspiele von Venedig: Wer gewinnt den Goldenen Löwen?

Viele aussichtsreiche Kandidaten: ein italienischer Historienfilm, lateinamerikanischer Konsens, Star- oder Autorenkino und ein Kolonialdrama.

Nahrungsaufnahme ist auf Filmfestivals ein ewiges Thema. Als Kritiker muss man, je nach Priorität, seine Mahlzeiten entweder zwischen zwei Filmvorführungen und die Arbeit am Schreibtisch quetschen. Oder man plant sein tägliches Filmpensum rigoros um die leiblichen Bedürfnisse herum.

Der Lido bietet immerhin, ein Vorteil gegenüber Berlin und Cannes, auf einem Kilometer ein ganzes Ensemble von ordentlichen Restaurants und Trattorias mit gutem Service. Doch nach knapp einer Woche kohlenhydratlastiger Mono-Diät setzen auch erste Entzugserscheinungen ein. Pasta und Pizza sind das bevorzugte Fast Food des Filmkritikers – denn nach der Deadline ist auf Festivals immer schon vor der Deadline.

Eine andere kulinarische Gesellschaftstheorie hat der Protagonist im italienischen Wettbewerbsbeitrag „Martin Eden“, inspiriert von Jack Londons Klassiker. „Wenn das Brot Erziehung darstellt“, erklärt der junge Matrose Martin beim Abendessen der Industriellenfamilie Orsini, „und die Tomatensoße Armut, dann muss die Erziehung Armut aufsaugen wie dieses Stück Brot.“

Der illiterate Martin (Luca Marinelli) überwindet in Pietro Marcellos bravourösem Gesellschaftsporträt aus Liebe zu Tochter Elena (Jessica Cressy) die Klassenschranken. Der soziale Aufsteiger wird zum gefeierten Autor und sozialistischen Vordenker, der zunehmend Verachtung für die Bauern und den gleichmacherischen Kampf fürs Proletariat entwickelt.

 Epochen verschmelzen

Gedreht auf körnigem 16mm-Material, das den Bildern eine wunderbar griffige Porosität verleiht, verschmelzen in „Martin Eden“ die Epochen (bis hinein in die Gegenwart) so unauflöslich wie die linken und rechten Theorien des politischen Quereinsteigers. Marcello bezieht sich, ähnlich wie Alice Rohrwacher mit „Glücklich wie Lazzaro“, auf die italienische Filmgeschichte, doch das Märchenhafte ist hier dem nüchternen Pragmatismus des frühen Bertolucci gewichen.

Der verbitterte Sozialist Russ Brissenden wird für Martin zu einer Art Mentor bei dessen Abstieg vom Sozialrevolutionär zum Verfechter einer anarchischen Individualismus. Nachdem Elena ihn verstößt, weil seine politischen Ansichten sich nicht mit denen ihrer Industriellendynastie vertragen, nimmt er doppelt Rache an seinen Idealen: indem er ein Mädchen aus seiner alten Nachbarschaft heiratet und ein kontroverser Autor wird. Für beide, seine Frau und seine Anhänger, empfindet er nichts als Verachtung.

Ein Kandidat für den Goldenen Löwen

Marcello erschafft das faszinierende Kaleidoskop eines Italien, das sich im stetigen Fluss befindet. Martin gleitet förmlich durch das 20.Jahrhundert, die Interieurs, Moden und Automodelle passen zeitlich nie zusammen. Auch sein Film adaptiert die Ästhetik vergangener Kinojahrzehnte, durch die – wie Erinnnerungsfragmente – Homevideoaufnahmen aus den Achtzigern flimmern. Und obwohl “Martin Eden” in seinen Bildern, seiner Politik und dem Porträt der italienischen Gesellschaft nie greifbar wird, besitzen seine Radikalität, die sozialen Fliehkräfte, denen die Menschen ausgesetzt sind, eine frappierende Gegenwärtigkeit.

Das wird über Historienfilme oft behauptet, Marcello aber löst das Versprechen auf eine poetische Weise ein. Hört man sich so um, genießt das italienische Kino in Venedig keinen sonderlich hohen Stellenwert. (Außer "Martin Eden" laufen zwei Filme über, natürlich, die Mafia im Wettbewerb) Es wird daher spannend sein, wie „Martin Eden“ bei der Jury ankommt. Dass er ein guter Kandidat auf den Goldenen Löwen ist, darüber herrscht weitgehend Einigkeit.

Spekulationen über die Präferenzen der Jury unter dem Vorsitz der argentinischen Autorenfilmerin Lucrecia Martel, die vorab schon als Abkehr von Venedigs Schmusekurs mit Hollywood interpretiert worden war, gehören auf dem Lido zum Tagesgeschäft. Viele erwarten in diesem Jahr einen Überraschungssieger, so wie zu Beginn der Ära Alberto Barberas.

Penélope Cruz, Juliette Binoche, Catherine Deneuve

Kein Konsenskandidat, aber ein starkes Statement (auch für das lateinamerikanische Kino) wäre Pablo Larraíns “Ema”, dessen erratische Energie viele Kritikerinnen und Kritiker positiv verwirrt zurückgelassen hat. Haifaa al-Mansours “The Perfect Candidate” ist zwar konventionelles Erzählkino, besitzt aber ein Darstellerinnenensemble, das über einige inszenatorische Schwächen hinwegtröstet.

Das sogenannte Weltkino ist in der ersten Woche in Venedig eher unterrepräsentiert. Ohnehin selten genug, dass wie im Vorjahr (mit “Roma” und “The Favourite”) Star- und Autorenkino eine derart zwingende Verbindung eingehen.

Hirokazu Kore-edas “La verité” mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche und Olivier Assayas Kuba-Thriller “Wasp Network” mit Penélope Cruz und Gael García Bernal kommen diesem Ideal da noch am nächsten, dürften sich aber kaum ernsthafte Chancen ausrechnen. Gut möglich also, dass der Gewinner des Goldenen Löwen erst in der zweiten Woche seine Premiere feiert.

Mit dem Kolonialdrama Waiting for the Barbarians” vom Kolumbianer Ciro Guerra (mit Johnny Depp und Robert Pattinson), “About Endlesness” vom schwedischen Löwen-Gewinner Roy Andersson und dem portugiesischen Historienfilm „The Domain” stehen noch aussichtsreiche Kandidaten aus.

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