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Sprecher Alexei Petrenko (l.) und Valery Gergiev in der Berliner Philharmonie.
© Kai Bienert

Die Münchner Philharmoniker beim Musikfest Berlin: Wenn Riesen schreiten

Der Geist Gustav Mahlers: Valery Gergiev und die Münchner Philharmoniker kommen mit zwei Werke von Galina Ustwolskaja und Dmitri Schostakowitsch zum Musikfest Berlin.

15 Minuten. Krass, wie lange Valery Gergiev sein Publikum in der Philharmonie warten lässt. Keine Erklärung, keine Ansage. Die Münchner Philharmoniker sitzen da und drehen Däumchen. Rhythmische Applausversuche versanden im Nichts. Erste Besucher wenden sich zum Gehen. Dann, als der Maestro aus St. Petersburg mit Rezitator Alexei Petrenko endlich auf dem Podium erscheint: Buhs, gemixt mit schwachem Applaus. Die Stimmung dieses Musikfest-Konzerts ist am Boden, bevor es begonnen hat.

Doch sie bessert sich, und das schnell. Petrenkos Stimme drückt allen Ärger an die Wand. Bröckelig, brüchig, lebenssatt kündet sie von einem Glauben, der uns fremd geworden ist. Galina Ustwolskajas dritte Sinfonie verdient kaum diesen Namen und schlägt trotzdem in Bann. Was für Musik: Keine Streicher, nur fünf Bässe, dazu heftiges Blech (fünf Trompeten, drei Posaunen) und drei Schlagwerker, die prominent ganz vorne beim Dirigenten stehen. Jeder Ton eine Setzung, als würden Riesen schreiten. Klänge wie von der Erschaffung der Erde – und nach einer Viertelstunde ist alles vorbei. Ustwolkaja, die 2006 starb, hat Verse des Benediktinermönchs Hermann von Reichenau vertont, sie sind kurz: „Starker Gott/Wahrer Gott/Vater des Ewigen Lebens/Schöpfer der Welt/Jesus Messias/Errette uns“. Der 78-jährige Petrenko, eigentlich Schauspieler zuhause in Russland, stemmt sich mühsam aus seinem Stuhl, ruft Gott mit diesen donnerhalligen Worten auf Russisch an, lässt tiefen Glauben frei strömen. Wie ein Mensch, der nicht mehr viel Zeit hat, bevor er seinem Schöpfer begegnet. Dass Petrenko später über den tückischen kleinen Zaun zwischen Podium und Saal stolpert und stürzt, ist bedauerlich, steigert seine Glaubwürdigkeit aber sogar noch.

Gergievs Gestik ist äußerst filigran - oder doch eher zittrig?

Dann ein pausenloser Umbau. Mit den Streichern treten jetzt auch die Mittelstimmen hinzu – für Schostakowitschs vierte Sinfonie. Seinem Image als ewig getriebener Workaholic zum Trotz dirigiert Gergiev mit äußerst filigraner Gestik, unter Zuhilfenahme eines kaum wunderkerzenlangen Stöckchens. Filigran oder zittrig? Die Münchner, die er seit einem Jahr leitet, kommen damit jedenfalls bestens zurecht, meistern das aberwitzige Sechzehntel-Fugato im ersten Satz mit Bravour. Der Geist Gustav Mahlers blitzt auf im ständigen Clash zwischen plärrender Jahrmarktsmusik und Augenblicken trügerischer Schönheit. Kurz vor dem Finale baut Schostakowitsch, der die Sinfonie 1935 zurückzog und erst 25 Jahre später aufführen ließ, eine triumphale Schlussapotheose ein. Sie ließe jeden Parteifunktionär jubeln. Doch damit endet das Werk nicht. Was folgt, ist ein auskomponierter Zerfall, ein dämmeriger Streichernebel, durchsetzt von leiser Trompete und Celesta-Terzen. Das lässt Ustwolskajas Ästhetik vorausahnen, deren Lehrer Schostakowitsch war. So bekommen Orchester und Dirigent schließlich noch ihre verdienten Bravos.

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