"The Act of Killing": Wenn Massenmörder Regie führen
Ein Realitycheck zum Festivalende und ein Blick auf die erschütternde Dokumentation „The Act of Killing“. Welche politische Macht können Filme entfalten?
Bilder, die die Welt verändern, das sagt sich so leicht. Ken Loach, mit einem Dokumentarfilm zu Gast, kann ein Lied davon singen. Nach seinem Spielfilm „Cathy, Come Home“ wurden vor 50 Jahren die britischen Obdachlosengesetze verändert. Bilder können schützen, das erlebt Jafar Panahi gerade: Solange der Filmemacher auf internationalen Festivals präsent ist, kann das iranische Regime den rechtskräftig Verurteilten kaum ins Gefängnis werfen. Bilder brechen Tabus, lösen nationale Debatten aus: „Shoah“-Regisseur Claude Lanzmann erhielt am Donnerstag den Ehrenbären.
Das Kino als Membran, durchlässig für die Wirklichkeit: Das bescherte der 63. Berlinale ihre stärksten Momente. Im bosnischen Wettbewerbsfilm „An Episode in the Life of an Iron Picker“ re-inszeniert eine Roma-Familie, wie der lebensgefährlich erkrankten Mutter ärztliche Hilfe verweigert wird, weil sie nicht versichert ist. Erst denkt man, warum hilft das Filmteam nicht aus? Aber nein, es ist ja ein Spielfilm. Dann erschrickt man über sich selbst: Der Schauplatz liegt nicht weit von Berlin entfernt. Die vermutete unterlassene Hilfeleistung entspricht der eigenen Ignoranz gegenüber dem Elend im ganz nahen Osten.
Das Wissen um die Manipulierbarkeit der Bilder im digitalen Zeitalter schwächt ihre Macht Die Folge: Das Kino misstraut sich selbst und impft sich mit Authentizität.Also zeigt „Harmony Lessons“ aus Kasachstan gleich zu Beginn eine täuschend echte Schafschlachtung. Das Feel-Good-Movie „Prince Avalanche“ spielt in einem realen Waldbrandgebiet, mit realen Opfern als Nebenfiguren. Und vom Realitätsschock der gleich in zwei Wettbewerbsfilmen eingesetzten Bärenfalle erholt man sich nicht so schnell. Jafar Panahi als er selbst in „Pardé“, die Migranten in „La Plaga“ aus Spanien, die russischen Arbeiter in „For Marx“: Im Wettbewerb wie in den Nebenreihen laboriert das Kino an den Grenzen von Fakt und Fiktion. Noch nie gab es so viele Berlinale-Beiträge, von denen sich nicht mehr sagen lässt, ob es Spiel- oder Dokumentarfilme sind.
Die Selbstbefragung mittels Realitycheck bringt aber auch die Gefahr mit sich, dass der Blick in die Welt sich vor lauter Beschäftigung mit der eigenen Wirkung verengt. Aber dann sieht man einen Film, der alle Glaubwürdigkeitszweifel samt der wiederholten Rede vom Tod des Autorenkinos und der „Berlinale in der Krise“-Debatten einfach hinwegfegt. Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm „The Act of Killing“ (Panorama) hat die moralische Wucht von Lanzmanns „Shoah“ und die dramaturgische Virtuosität von Marcel Ophüls’ „Hotel Terminus“. Und er zeigt, wie mörderisch die Macht der Bilder sein kann, vor 50 Jahren und heute.
Es geht um die indonesischen Todesschwadronen, die 1965/1966 über eine Million „Kommunisten“ ermordeten: politische Gegner, Intellektuelle, Gewerkschafter, Chinesen. Die Anführer dieser Kommandos werden nach wie vor als Volkshelden gefeiert, die damals gegründete paramilitärische Organisation hat eine Million Mitglieder. Unrechtsbewusstsein, Kriegsverbrecherprozesse, Wiedergutmachung, all das existiert in Indonesien nicht. Die auf Einschüchterung und Korruption basierende Macht der heutigen Regierung gründet auf den Leichenbergen von damals. Teils sind es dieselben Leute, die noch heute als Unterdrücker am Werk sind.
Eigentlich wollte der US-Regisseur, dessen Großeltern knapp dem Holocaust entkamen, einen Film über die Überlebenden des Genozids drehen. Aber sie wurden schikaniert, bedroht, festgenommen. Also begann er, die Täter zu interviewen, Männer, die sich heute im Wahlkampf aufstellen lassen und für General Suharto mit bloßen Händen töteten. Er stieß dabei auf Gangster, die ihre Mordmethoden Hollywood verdanken, Mafiafilmen und Western, für die sie auf dem Schwarzmarkt Tickets verkauften, bevor sie sich als Killer verdingten. James Bond, Al Pacino, John Wayne, den Mord mit einer Drahtschlinge – das konnten sie auch, schneller, effektiver. Filme, die zum Morden inspirieren, gibt es also nicht erst seit der Debatte über Amokläufer und Killerspiele. Und weil sie sich beim Töten wie Kinohelden fühlten, plagte sie kein Schuldgefühl. Hollywood entlastete sie.
Oppenheimers Coup: Er bat die Täter, ihre Morde und Folterverhöre als Filmszenen vor der Kamera nachzustellen. Sie kommen der Bitte freudig nach, köpfen, erwürgen, schneiden Kehlen durch, richten sich mit Theater-Make-up als Opfer zu, bauen Musicalszenen mit sexy Showgirls ein und spielen ein Massaker in einem Dorf nach, unter Beifall der Bevölkerung, in Anwesenheit eines Ministers. Erinnerung als Billigsoap, Träume, die in Albträume umschlagen, die verdrängte Realität als Splattermovie: im Namen der Erinnerung und der Geschichte, sagen die Gangster.
Die unter Täterregie entstandenen Szenen spielt Oppenheimer ihnen auf Video vor, filmt ihre Reaktion auf das Reenactment. Aber nur sein Hauptprotagonist, Anwar Congo, ein feiner alter Herr, der als Erster die Drahtschlingen-Methode vorführt und gleich darauf einen Cha-Cha-Cha tanzt, auf jener Terrasse, auf der er allein tausend Menschen getötet hat – nur Anwar bekommt Skrupel.
Filmhelden als Vorbilder für Massenmörder, die ihre Taten wiederum ins Kino zurückspiegeln, das gab es noch nie. Das Kino als Wahrheitskommission, als internationaler Gerichtshof für ungesöhnte Menschheits-Verbrechen? „Jetzt weiß ich, wie schlimm meine Opfer sich gefühlt haben“, sagt Anwar, nachdem er sich als Opfer auf Video sah. „Nein, es war schlimmer“, sagt Oppenheimer. „Du weißt, es ist ein Film, deine Opfer wussten, sie werden getötet.“
Das Kino kommt der Wirklichkeit am stärksten bei, wenn es um die Grenzen der Vorstellungskraft weiß. Schärfer als mit diesem Satz lässt sich diese Grenze nicht ziehen. „The Act of Killing“ erhellt auf ungeheuerliche Weise, woran sich so viele andere Filme am Ende nur abarbeiten: die unheilbare Verstrickung von Fantasie und Politik, Imagination und Verbrechen, Moral und Verdrängung. Die Bilder und die Wirklichkeit, sie sind seit jeher Komplizen. Die Indonesier im Film werden im Abspann übrigens nur anonym aufgeführt. Mit Klarnamen würden sie ihr Leben aufs Spiel setzen, hier und heute, im Jahr 2013.