Interview Charles Simic: „Wenn ich denke, werde ich traurig“
Philosophie und Politik: Der amerikanische Dichter Charles Simic über Verse für US-Präsidenten, die Bombardierungen von Belgrad – und die Kunst, sich beim Schreiben selbst zu überraschen.
Mr. Simic, Sie stehen im Ruf, ein äußerst verständlicher Dichter zu sein. Was bedeutet Ihnen Zugänglichkeit?
Gedichte bestehen immer aus einer Zusammenarbeit von Leser und Autor. Man schreibt erst eine Zeile, dann eine zweite, die womöglich ganz andere Assoziationen nach sich zieht. Dieser Prozess lässt sich immer weiter aufschieben. Aber wenn man völlig darauf verzichtet, die Fantasie des Lesers in einer bestimmten Szenerie zu verankern, wird er früher oder später aufgeben. Das Leben ist kurz, und er will einfach herausfinden, ob von äußeren Geschehnissen die Rede ist oder von etwas Innerlichem. Meine Zugänglichkeit entsteht nicht bewusst, sie hat mit meinem Temperament zu tun. Ich spreche gerne mit Menschen, und ich freue mich, wenn sie antworten.
Muss er sich bei einem als schwierig geltenden Lyriker wie John Ashbery nicht sehr viel mehr gedulden?
Ja, Ashbery wirkt erst einmal dunkel. Aber er weiß genau, wie man den Leser neugierig macht. Es ist verblüffend, wie er das Interesse am Mäandern seiner Texte wachhält. Sie sind nicht von Grund auf undurchsichtig. Bei ihm versteht man auf Anhieb, wie er anfängt. Unklar ist nur, wie er fortfährt: Zack!, geht es plötzlich um etwas ganz anderes. Einige der größten Poeten waren durch und durch schwierig. Viele Gedichte öffnen sich dem Leser erst, wenn er sie wieder und wieder liest.
Die erste Zeile Ihres Gedichts „Ein Brief“ (A Letter) lautet: „Liebe Philosophen, wenn ich denke, werde ich traurig.“ Wie so viele Dichter misstrauen Sie der Philosophie. Halten Sie die Erkenntnisfähigkeit der Poesie für höher?
Davon ist wahrscheinlich jeder Lyriker überzeugt. Vor vielen Jahren war ich einmal an die Idaho State University in Pocatello eingeladen, wo sich spätnachts der schon reichlich angetrunkene Lehrstuhlinhaber der philosophischen Fakultät aufregte: „Worauf wollt ihr Dichter eigentlich hinaus?“. Alle bedeutende Poesie entwickelt Gedanken und Ideen. Auch ich will mit einer gewissen Tiefe erfassen, was es bedeutet, in dieser Welt zu leben. Und natürlich gibt es eine Dichtung, die mit rationalen und rhetorischen Mitteln argumentiert, die denen des philosophischen Diskurses ähnelt. Ich bewege mich eher in der Tradition von William Carlos Williams, der erklärte: „No ideas but in things.“ Man schaut sich die Dinge in ihrer Erfahrbarkeit an, und je sorgfältiger man es tut, desto klarer sieht man, zu welchem Zusammenhang sie sich fügen.
Lesen Sie denn philosophische Texte?
Erst auf dem Weg nach Berlin habe ich im Flugzeug ein wenig Nietzsche gelesen. Aber schon nach der Highschool schleppte ich eine Philosophiegeschichte des britischen Rundfunkintellektuellen C.E.M. Joad mit mir herum, und bald wollte ich alles lesen, was seit den Vorsokratikern als wichtig gilt. Ich fühle mich unwohl, wenn ich mich auf bestimmten Feldern nicht auskenne. Eine Weile ging mir das auch mit Physik und Biologie so.
Sie scheinen auch die Mystiker verschlungen zu haben. Nicht nur, dass Ihre Gedichte die Gesetze einer undurchdringlichen Wirklichkeit erfassen wollen, auch manche ironischen Titel sprechen für sich: „Mystic Life“ oder „The Writings of the Mystics“.
Das fing schon mit meinem Vater an, der Philosophen wie Mystiker las. Ich habe seine Neugier geerbt. Ob Buddhismus, Hinduismus oder christliche Mystik – ich habe Beziehungen in diese Richtungen, wenn auch keine organisierten. Doch von klein auf hatte ich das Gefühl, dass an unserer Seite ein unaussprechliches Etwas gegenwärtig ist, wobei ich über dieses Andere gar nicht weiter spekulieren will. Das soll der Leser für mich tun.
Vor allem Ihre frühen Gedichte, etwa das legendäre „Stone“ (Stein), in dem Sie sich die Vorzüge eines rein mineralischen Daseins gegenüber einem fleischlichen ausmalen, verwischen Sie die Grenze zwischen dem Belebten und dem Unbelebten. Solche fließenden Übergänge kennzeichnen nichtwestliche, schamanistische Traditionen. Sehen Sie Poesie auch als Ausweg aus unserer rationalitätsversessenen Welt?
Mütterlicherseits kann meine Familie auf eine 200-jährige Tradition orthodoxer Priester zurückblicken. Erst mein Großvater, ein Militär, der die Kirche hasste, machte Schluss damit. Irgendetwas davon hat sich, obwohl ich so wenig gläubig bin wie meine Mutter, wohl in meine DNA eingesenkt. Wann immer ich eine Kirche betrete, erinnere mich an die religiösen Gefühle meiner Kindheit. Aber denken Sie nur an Märchen. In ihnen findet eine ständige Metamorphose von Dingen und Figuren statt.
„Es gibt mehr Dichter als je zuvor"
Zu seiner Amtseinführung als Präsident der USA lud John F. Kennedy den Dichter Robert Frost ein und begründete damit eine neue Tradition. Für den Fall, dass Donald Trump bei Ihnen anklopft: Hätten Sie ein Gedicht für ihn?
Die Wahrscheinlichkeit, dass Trump überhaupt einen Dichter einlädt, geht, wie Sie wissen, gegen null. Ich hätte aber auch unter anderen Umständen wenig beizutragen. Denn was Dichter zu solchen Anlässen beigetragen haben, war fast immer mies. Es funktioniert nicht, und ich habe Mitleid mit jedem, der es tut – selbst bei Clinton und Obama. Nach 9/11 bat der Kongress Billy Collins, den damaligen Poet Laureate der USA, ein Gedicht über das Geschehene zu schreiben. Doch als er „The Names“, ein ungewöhnlich gutes Gedicht schließlich vortrug, waren die meisten Gäste nur perplex. Wer ist das, fragten sie sich. Und: Was ist hier eigentlich los? Sie hatten offenbar noch nie ein Gedicht gehört. Das sagt alles über die Situation der Poesie in unserem Land.
Von politischen Äußerungen hat Sie das nicht abgehalten. Hat das auch mit den Urerfahrungen zu tun, über die Sie gerade beim Berliner Poesiefestival noch einmal ausführlich Auskunft gegeben haben – insbesondere die Bombardierung Belgrads durch die Deutschen im Jahr 1944?
Ich denke gar nicht so sehr an diese Zeit, sie hat mich nicht traumatisiert. Anderseits habe ich nie daran gezweifelt, dass sie ihre Spuren hinterlassen und mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Ich will also nicht leugnen, dass ich ohne sie in meinem Blog für die „New York Review of Books“ wahrscheinlich nicht über precision bombing geschrieben hätte, wie es die Amerikaner im Irak mit wenig Glück versuchten. Immer sterben dabei Zivilisten. Genauso wenig hat es 1999 in Belgrad funktioniert, als die NATO Slobodan Milosevic bombardierte.
Die Lyrikszene ist in den letzten Jahren weltweit explodiert. Wie behalten Sie den Überblick?
Niemand kann zusammenfassen, was in den letzten 20 Jahren geschehen ist. Es gibt keine Anthologien mehr, die die Vielfalt angemessen abbilden. Studien können sich nur einer bestimmten Richtung widmen. Es gibt mehr Dichter als je zuvor, zugleich wird in den USA weniger und weniger gelesen. Als ich Ende der 50er Jahre in Chicago anfing, kannte ich jeden, der irgendwie mit Poesie zu tun hat. Die 15 Dichter, die es gab, bildeten fast eine Sekte. Dann, in den späten 60er Jahren nahm die Beliebtheit der Creative-Writing-Programme, ausgehend vom Iowa Writers’ Workshop, ständig zu. Heute gibt es an den Universitäten rund 870 solcher Programme und ein Vielfaches an Absolventen. Zur alljährlichen Versammlung der Association of Writers and Writing Programs kommen inzwischen mehr als 12 000 Menschen. Und sie alle wollen Bücher veröffentlichen, um Jobs zu kriegen.
Können Sie spontan drei Namen nennen, die Ihnen aufgefallen sind?
Vielleicht einen Dichter aus Boston, David Rivard, der aus einer französisch-kanadischen Familie stammt. Oder Tony Hoagland, der ungewöhnlich lustige Gedichte schreibt. Und Dean Young.
Sie alle stehen nicht dafür, dass die Creative-Writing-Kultur zu ästhetischer Gleichmacherei führen würde.
So kann man es auch nicht sagen. Wenn man die Stile klassifizieren würde, käme man vielleicht auf 15, aber sie alle vereinen Vorhergehendes. Es gibt extrem feministische Gedichte und solche, die sich noch immer modernistischen Ideen verpflichtet fühlen. Aber natürlich gibt es die Ashbery-Leute, es gibt die language poets in der Tradition von Charles Bernstein. Sharon Olds schreibt eine bekenntnishafte Lyrik, die ihre Anhänger hat. Doch schon Jorie Graham hat eine so eigene Stimme, dass niemand sie imitiert.
Und wer folgt Ihrem Vorbild?
Gottseidank auch niemand! Jüngere Dichter sagen mir manchmal, wie viel ich ihnen bedeute. Einer erklärte mir sogar, dass er und seine Frau sich ineinander verliebten, als sie einander meine Gedichte vorlasen. Ich gehöre allerdings zu einer Generation von Dichtern, die zumindest die Außenwahrnehmung verbindet. Ich rede von meinem Freund Mark Strand, von James Tate oder Russell Edson, die inzwischen alle tot sind. Wir wurden als Surrealisten bezeichnet, was aber ziemlich dumm war. Denn wir alle gebrauchen unsere Imaginationskraft jenseits von André Breton oder Cesar Vallejo. Kansas, woher James Tate kam, ist der Staat, der Buster Keaton hervorbrachte. Es gibt genuin amerikanische Surrealisten.
Sie haben eine Ehrfurcht gebietende Veröffentlichungsliste. Was tun Sie eigentlich, um sich nicht zu wiederholen? Wie gelingt es Ihnen, sich zu überraschen?
Ich wiederhole mich leider, und mein einziger Trost ist es, dass ich das Gesamtwerk vieler großer Dichter gelesen habe, und sie alle haben maximal zwei Dutzend Themen. Erst kürzlich habe ich Wallace Stevens unterrichtet, und Junge, Junge, wiederholt sich der! Jeder Mensch hat nur eine begrenzte Bandbreite von Ideen, Erfahrungen. Man schreibt manchmal nur, um Reißaus vor sich selbst zu nehmen. Am liebsten würde ich etwas schreiben, das mich wirklich, wirklich überrascht. Etwas, das mich zugleich schockiert und entzückt. Etwas, das anders ist als alles, was ich bisher geschrieben habe. Aber ach, wie schwer ist das.
Charles Simic, 1938 in Belgrad geboren, lebt seit 1954 in den USA. Der Pulitzer-Preisträger und frühere amerikanische Poet Laureate (2007/08) gilt mit seinen oft ironischen, zwischen Dämmerung, Schlaflosigkeit, Erinnerung und Traum angesiedelten Gedichten als einer der originellsten Lyriker unserer Zeit. Über 30 Jahre lang unterrichtete er Englische Literatur und Kreatives Schreiben an der University of New Hampshire. In der vergangenen Woche war er Gast des Berliner Poesiefestivals.
Im Münchner Carl Hanser Verlag erschien zuletzt Picknick in der Nacht, eine zweisprachige Gedichtauswahl aus mehr als 50 Jahren (aus dem Amerikanischen von Wiebke Meier, 275 S., 22,90 €). In den USA veröffentlichte Simic zuletzt die Prosasammlung The Life of Images (HarperCollins/Ecco, 352 S., 27,99 USD).
Das Gespräch führte Gregor Dotzauer.