Roman von Eckhart Nickel: Wenn die Naturpartei regiert
Vom Pop zur Öko-Diktatur: Eckhart Nickels feinsinniger Debütroman „Hysteria“ überführt die Sehnsucht nach dem Natürlichen in eine Dystopie.
Es sind nicht nur die Himbeeren, mit denen hier was nicht stimmt, weil ihre Farbe eher schwärzlich ist, „was den Früchten etwas entschieden Jenseitiges gab“. Nein, Bergheim, der Held von Eckhart Nickels Roman „Hysteria“ registriert so einige Unstimmigkeiten auf seinem Weg von einem Markt in die Öko-Kooperative namens „Sommerfrische“ und eine Baumschule: Die Brombeeren schmecken nicht, die Marienkäfer sehen merkwürdig länglich aus, und das Rind, das sich an einem Zaun den Rücken wundscheuert, blutet nicht, sondern zum Vorschein kommen „größere Flächen einer gräulich glänzenden Fleischmasse, die verdorbener Hähnchenbrust in Zellophan ähnelte.“
Bald landet Bergheim in einem sogenannten Kulinarischen Institut, wo er auf seine einstige Studienfreundin Charlotte trifft. Während diese ihm zunächst über die Farben und Beschichtungen der Institutsböden aufklärt, erinnert Bergheim sich, wie früher die Rousseau-Husaren Furore machten mit ihren zehn Gesetzen des „Spurenlosen Lebens“. Das erste lautete: „Die Existenz der Menschen auf der Erde ist ein biologischer Zufall und steht der uneingeschränkten Entfaltung der Natur nur im Weg.“
Bei so einer Lektüre stellt sich natürlich schnell die Frage, wie übrigens schon im vergangenen Jahr beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, bei dem Eckhart Nickel für den Beginn seines Romans den dritten Preis gewann: In was für einer seltsamen Welt sind wir denn hier gelandet? Ist das wirklich ein Roman von Eckhart Nickel, der einst als Pop-Autor zu ein wenig Ruhm und Ehren kam? Nickel war Mitglied des popliterarischen Quintetts „Tristesse Royale“, ging mit Christian Kracht auf Reisen, veröffentlichte Erzählungen und Reisebücher und produzierte mit Kracht in Nepals Hauptstadt Kathmandu für den Springer Verlag das Magazin „Der Freund“.
Die neue Sehnsucht nach dem Landleben
Doch, ja, all das hat seine Richtigkeit. Nickel ist sich mit seinem Debütroman durchaus treu geblieben. Zumal er vor zwei Jahren im „Interview“-Magazin einen Essay über die überall aufflammende „Landliebe“ schrieb, nicht nur darüber, wie das Wörtchen „Country“ „auf einmal allerorts im gesellschaftlichen Hallraum der Konsumkultur auftauchte“, sondern der „biodynamisch genährte Lebensstil“ auch zur „Sinnsuche auf den Ausfallstraßen über die Dörfer“ führte.
„Hysteria“ ist eine Art Fortsetzung dieses Essays. Der Roman überführt die real existierende neue Sehnsucht nach dem Landleben, dem Natürlichen in eine recht abgedrehte Dystopie. In Nickels gar nicht so weit entfernter Romanzukunft ist die „Naturpartei“ an der Macht und hippe Studenten betäuben sich in der „Aroma-Bar“ mit Düften und Fruchtcocktails, weil andere Drogen verboten sind und selbst „die als verhältnismäßig harmlos geltenden Stimulanzien wie Koffein und Tein ins Visier der Abhängigkeitsfahnder geraten“ waren. Oder hier betreibt ein gewisser Abraham Schöpfer eine Papiermanufaktur, die nur abgefallenes Laub verarbeitet, und zwar allein mit Regenwasser.
Seltsame Schreie im Kulinarischen Institut
Eckhart Nickel erzählt seinen Roman auf zwei Zeitebenen, durchaus mit Sinn für eine gewisse Spannung. Mal führt er seinen Helden tief und tiefer in die Raumfluchten des Kulinarischen Instituts, wo dieser manchmal seltsame Schreie hört. Dann wieder erinnert sich Bergheim der Zeit seines Studiums, seiner Beziehungen zu Charlotte und Ansgar. Oder der merkwürdigen Vorgänge in der Papiermanufaktur, in der eine Angestellte Schöpfers, die Kirsten Ofen heißt, die Schaufenster mit Miniaturmodellen literarischer Szenen ausstaffiert (E.T.A. Hoffmann, Robert Musil) und eines Tages alles zerstört und spurlos verschwindet.
Man kann sich gut vorstellen, was Nickel für einen Spaß gehabt hat beim Bauen seiner Settings, wie er vor sich hin gegrient hat beim Ersinnen von Fruchtcocktails wie dem „Stokerama“, einer Mixtur aus Roter Beete, Lakritze, Blutorange und Schwarzer Johannisbeere. Oder einer Speisenfolge, die vom „Carpaccio von der Nashi-Birne“ über ein „Chrysanthemen-Champignon-Risotto“ bis hin zum „Weiße-Johannisbeere-Pannacotta mit Klarapfel-Kompott“ reicht.
Ein Mix aus Zukunfts- und zitatenreichem Poproman
„Hysteria“ mag zwar eine Dystopie sein und lässt sich als gleichermaßen bos- wie schelmenhafte Kritik an einem überbordenen Bio- und Öko-Fetischismus verstehen. Trotzdem hat sich Nickel nicht so weit von seinen popkulturellen Neigungen entfernt. „Hysteria“ ist eine Mischung aus Zukunfts- und zitatenreichem Poproman. Allein die Hingabe, mit der Nickel seine überkandidelten Manufactum-Szenarios entwirft, die Genauigkeit, mit der er zum Beispiel Früchte beschreibt: „Nein, auch die schwarzen gallertartigen ummantelten Kerne haben es in sich. Wie Pfeffer würzen sie die herbe Süße, die sie ummantelt, von innen nach. Man kann die Toba-Papaya so auch als echten Pionier der experimentierfreudigen Geschmackskultur von heute verstehen, mit ihrem angeblich so neuartigem Brimborium aus Süßscharf und Bittersauer, diesem salzgeschwängerten Würzwahn sondergleichen.“
„Hysteria“ steht in der Tradition eines Ästhetizisten wie Joris K. Huysmans, der Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem Roman „Gegen den Strich“ die Bibel der Décadence verfasst hatte. Auch hier flieht der Held aufs Land, um abgeschieden von der Welt sich allen möglichen Genüssen hinzugeben, um überhaupt vor der Wirklichkeit sicher zu sein und alles Künstliche als den Sinn des Lebens zu feiern. Nickels Sprache ist vergleichsweise elegant, sie ist erlesen und manieriert, stets versehen mit einem leicht ironischen Unterton.
Das organische Leben schlägt am Ende zurück
Dadurch erscheint die Bio-Welt von „Hysteria“ noch eine Spur lächerlicher, auch monströser. Nickel pervertiert sie zu einer Dr. Mabuse-Frankenstein-Welt. Die Natur soll hier eine artifizielle Überhöhung erfahren. Im Kulinarischen Institut wird den Tieren das Leben ausgetrieben. Sie sind „mechanische Ungeheuer“, künstlich gezüchtete Tiere – entwickeln aber eines Tages ein Eigenleben, als sie natürliche Implantate (Fleisch!) abstoßen.
Am schön grotesken Ende dieses tollen Romans schlägt das organische Leben in der aseptischen Atmosphäre des Kulinarischen Instituts brutal zurück, zuerst in Form einer Schmeißfliege. Und gewissermaßen Essig war es also mit der künstlichen Existenz und der Rettung der Natur vor sich selbst. So viel Beruhigung muss sein, hat Eckhart Nickel sich wohl gedacht, er ist schließlich kein Thriller- oder Sci-Fi-Autor. Nur Himbeeren, die wird man sich jetzt nach der Lektüre dieses Romans wohl doch immer sehr genau anschauen.
Eckhart Nickel: Hysteria. Roman. Piper Verlag, München 2018. 240 Seiten, 22 €.
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