Dream City: Wenn die Medina tanzt
Es gibt ihn noch, den Geist der Arabellion: Das Festival „Dream City“ verwandelt Tunis in eine Oase der Freiheit.
Stoisch schiebt der Müllmann in Orange seine grüne Tonne durch die Gasse der Medina und gibt lauthals einen Singsang von sich, von dem unsereins nur das Wort „emchi“ versteht. Singende Müllmänner in Tunis? „Ich gehe voran“, übersetzt ein freundlicher Tunesier „emchi“ und präzisiert, „ich gehe aufrecht, und schreite voran“. Der Satz des Müllmanns ist Ausdruck des neuen Lebensgefühls. Ganz gleich, welchen Beruf ich habe, ich bin ein Mensch, wertvoll, aufrechten Ganges und schreite voran.
Tunis ist zur „Dream City“geworden, so heißt das Festival für die Altstadt. Tunesische Künstler und ausländische Gäste bespielen mit allen möglichen Ausdrucksformen die engen Gassen, führen zu ungewohnten, oft auch provisorischen Orten. Unser Müllmann in Orange ist Teil des Festivals. „Künstler im Angesicht der Freiheit“ war das Motto von „Dream City“ in diesem Jahr, wenngleich diese Freiheit durch religiöse Extremisten bedroht ist.
Am Ende der Rue Sidi Ben Arous liegt ein kleiner Platz, zwei Palmen, eine Frau in Schwarz schlägt die Trommel wie ein Marktschreier. Pappkulissen zeigen Sklaven mit Joch, und aus einer großen Kiste springt plötzlich schreiend eine Frau, eine Sklavin mit weißen Haaren und buntem Fransenrock, und führt zu den harten Trommelschlägen einen wilden Tanz auf. Auf dem Brunnenrand haben sich Zuschauer niedergelassen, Frauen jeden Alters, mit Kopftuch oder westlich gekleidet. Jugendliche lehnen lässig an ihren Mofas und schauen gebannt zu.
Ursprünglich sollte es im alten Goldsoukh gespielt werden, doch die Basaris hatten etwas gegen das Spektakel in den engen Gassen – die Festivalleitung beschloss, den Spielort zu verlegen – der einzige „Zwischenfall“ während des fünftägigen Festivals in der Medina, deren Bewohner Performances, Tanz- und Straßentheater nicht gewohnt sind. Aber wo immer etwas geschieht, die Menschen bleiben stehen, schauen, irritiert, belustigt, kommen miteinander ins Gespräch. Viele junge Helfer sind unterwegs, erkennbar an ihren Schildern am schwarzen Band, und ebenso viele Tunesier und einige Touristen, bewaffnet mit einem Stadtplan und dem dicken grauen „Dream City“-Buch, das auf Englisch, Französisch und Arabisch erklärt, was zu sehen ist.
"Die Künstler wollten mehr"
Das „Collectif Wanda“ hat auf der weiß gestrichenen Dachterrasse vier weiße Boxen aufgestellt. Wer die Kabine betritt, lagert auf einer Matratze und schaut in den Himmel. „Der Himmel ist über dem Dach“ heißt diese Installation, der Himmel als Ausdruck totaler Freiheit, eingerahmt wie ein Bild, exklusiv für einen kurzen Moment. „So etwas sollte jedes Jahr sein“ sagt Youssef, der Musiker, „es belebt die Medina ungemein.“
„Dream City“ findet alle zwei Jahre statt, zum ersten Mal 2007, damals um den 7. November, „weil das Ben Alis großer Tag war, da ließ der Diktator immer den Tag der Machtergreifung feiern, die Polizei war abgelenkt“, erzählen die Geschwister Selma und Sofiane Ouissi, Tänzer und Erfinder von „Dream City“. Sie hatten es erst zwei Tage vorher bekannt gegeben, um die Polizei nicht aufmerksam zu machen. „Die Treffen fanden in Privatwohnungen statt und die Künstler fanden das irre und wollten mehr“, sagt Sofiane. Man habe die Bewohner der Medina vorher von Tür zu Tür informiert und die Polizei habe nichts verstanden, aber wohl das Sicherheitskonzept gelobt. 2010 wurde das Festival akzeptiert, aber die Offiziellen hätten den subversiven Charakter nicht verstanden, sagt Sofiane.
2012 ist alles anders, der neue Tourismusminister schaut vorbei, der Bürgermeister unterstützt das Fest, ebenso wie westliche Kulturstiftungen und Botschaften und auch das Goethe-Institut. „Wir haben Türen geöffnet und wir wissen nie, wie die Menschen reagieren“, sagt Selma. „Wir verstehen das Ganze als Bewegung, die Stadt ist ein Körper, und das Publikum tanzt mit, ohne es zu wissen“, ergänzt Sofiane.
"Die Mauer der Angst ist gefallen"
„Die Mauer der Angst ist gefallen wie bei Ihnen in Berlin“, bringt es eine Passantin auf den Punkt. Die Stadt vibriert, ist süchtig nach Freiheit und neuen Erlebnissen, auch wenn man sie nicht immer versteht. „Dream City“ führt auch die Tunesier zu Orten, die sie wahrscheinlich nicht kennen. In einem etwas heruntergekommenen Hinterhof setzen sich die Besucher Kopfhörer auf, Webstühle rattern, doch nirgends mehr sind Webstühle zu sehen. Die Weber erzählen von ihrer Verdrängung, Sonia Kallel führt über Audioguide zu verlassenen Höfen bis in einen großen Raum im „Château“, wo auf einer atemberaubend großen Videoleinwand ein virtueller Webstuhl die Fäden webt, ohne je ein Stück Stoff zu produzieren.
Zu den Gästen gehört die Palästinenserin Raeda Saadeh, die eine der beeindruckendsten Performances auf der Place de la Victoire an der Porte de France gibt, wo sie in der Glut der Mittagssonne in einem weißen Kleid steht, das wie ein Kreis um sie ausgebreitet ist, wie ein Derwisch. Nur dass das weiße Gewand nicht fliegt, sondern mit einem Radius von geschätzt drei Metern um sie herum eine blendend weiße Fläche bietet, auf die die Zuschauer ihre geheimsten Wünsche, auf bunten Stofffetzen notiert und verknotet, auf das Kleid werfen.
Tunis genießt die Freiheit
Unweit der Place de La Victoire schützen immer noch Stacheldraht und Schützenpanzer die Französische Botschaft an der Avenue Bourguiba, gegenüber der Kathedrale, wegen der Salafisten. Am Freitag hatte die Regierung kurzerhand ein paar zentrale Straßen für den Autoverkehr gesperrt, aber nichts war geschehen. Alles ruhig. Freiheit ist ein kostbares Gut, das zeigt auch die Gruppe um die Beninerin Tobi Ayedadjou. Menschen in Zwangsjacken schleichen durch die enge Gasse, werfen sich auf den Boden, blicken verrückt, dehnen sich, strecken sich, halten den Verkehr auf. Die strenggläubige Dame mit Kopftuch zückt ihr iPhone und fotografiert die bizarre Szenerie.
„Dream City ist das einzige Festival für junge Leute, nicht für die üblichen Leute vom Kino oder Theater“, resümiert die Filmschauspielerin und Aktivistin Sondos Belhassen. „Es wird jetzt in der Medina investiert, Hotels und Restaurants entstehen, aber die Stadt muss auch etwas für die Künstler tun, man muss mit der Stadt reden. Ich mache keinen Unterschied zwischen Bürger und Künstler. Ist der Künstler bedroht, ist auch der Bürger bedroht“, sagt sie, angesprochen auf die Macht der Fundamentalisten.
„Dream City“ hat Tunis ein traumhaftes Wochenende beschert, hat junge Menschen gezeigt, die begierig sind, Neues zu erleben und die stolz auf ihre Revolution sind. Ein Ableger von „Dream City“ ist nächstes Jahr nach Marseille, in die Kulturhauptstadt Europas 2013, eingeladen.
Rolf Brockschmidt
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