Ein Historiker verabschiedet unser Geschichtsbild: Wenn der Schatten Hitlers verblasst
Für seine "Kurze Geschichte der Gegenwart" wird Andreas Rödder gefeiert. Doch hinter der glitzernden Fassade des Werks lauern provokante Thesen.
Selten ist ein historisches Buch so einhellig gepriesen worden wie Andreas Rödders „21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Tatsächlich hat der Mainzer Historiker ein bemerkenswertes Werk vorgelegt, aber hinter der glitzernden Oberfläche lauern provokante Thesen. Wenn Rödder sich durchsetzt, verändert sich das Geschichtsbild der Deutschen. Der Historiker geht mit seinem Versuch, die Gegenwart zu sezieren, ein großes Wagnis ein. In acht Kapiteln geht er unter anderem der Frage nach, wie die digitale Revolution und die globalisierte Ökonomie unsere Welt und unser Denken verändern, wie sich der Klimawandel bekämpfen lässt, ob der Kapitalismus die Demokratie bedroht und wie Europa mit Deutschlands wiedererlangter Hegemonie zurechtkommt. Schließlich fragt er nach der Aufgabe der Deutschen in der Welt. Ein in der „Komfortzone“ (Rödder) der alten Bundesrepublik verhaftetes Denken greift da jedenfalls zu kurz.
Eine entscheidende Rolle bei der Formierung der Gegenwart weist Rödder den französischen Poststrukturalisten um Michel Foucault und Jean-François Lyotard zu, die die Ordnungsvorstellungen der klassischen Moderne zerschmettern wollten. Der Autor aber hat sichtlich Freude daran, ihren Gedanken zu folgen. „Die großen Erzählungen und die geschlossenen Theorien“ vom Marxismus über Keynesianismus bis zu anderen Wirtschaftstheorien hätten „ihre Glaubwürdigkeit verloren“, schreibt er und bilanziert: „Die Realität ist komplexer als alle Theorie.“
Der 46-Jährige ist einer der klügsten Vertreter einer Generation deutscher Historiker, von denen einige zwar den zentralen Stellenwert der Erinnerung an Krieg und Nationalsozialismus (noch?) nicht infrage stellen, den Holocaust und seine Vorgeschichte aber zur Erklärung der Gegenwart nicht mehr für zentral halten. Das „Entschwinden des 20. Jahrhunderts“ nennt er das Phänomen in seinem Buch. Folgt man Rödder, dann verblasst der Schatten Adolf Hitlers ziemlich schnell.
Der Paradigmenwechsel der Geschichtswissenschaft vollzieht sich anders als im Historikerstreit 1986 nicht in lautstarker öffentlicher Debatte, sondern gleichsam en passant. Bei Rödder funktioniert das so: Weil mit der Digitalisierung und Ökonomisierung die stärksten Antriebskräfte von Veränderung heute globale Phänomene sind, die nur noch national verarbeitet werden, verblasst die Wirkung spezifisch deutscher Traditionen. Analogien und Erklärungen zur ungeheuren Dynamik der Gegenwart sucht der Autor nur in der Zeit vor 1914 und in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, „in denen die Kräfte freigesetzt wurden, aus denen die Welt 3.0 hervorging“, wie er schreibt. Forschungsergebnisse, wonach das NS-System eine radikale Modernisierung vorantrieb, scheinen ihn nicht zu interessieren.
Ohne erkennbare nationalapologetische Absicht (so ein Reizwort aus dem Historikerstreit) verabschiedet er den Holocaust als Bezugspunkt historischer Erklärung. Wenn Rödder damit Erfolg hat, sind die einschlägigen Gedenktage der Republik bald nur noch hohle Rituale, die Reden dazu im Bundestag verlorene Zeit.
Der Abschied von der Fixierung auf den Nationalsozialismus und dessen Vorgeschichte hat Konsequenzen, denn Geschichtsbilder prägen auch politische Ziele: An die Heilswirkung einer immer stärkeren Integration der EU-Staaten glaubt der Mainzer Historiker so wenig wie daran, dass der Export westlicher Werte die Welt verbessern kann.
Wer anderen Überzeugungen folgt, muss sich nicht abschrecken lassen. Die souveräne Stoffbeherrschung, die politische Urteilskraft, die Originalität der Gedanken und nicht zuletzt der menschenfreundliche Pragmatismus dieses Buches nötigen auch jedem Respekt ab, der sich anders als der Autor nicht im konservativ-liberalen Spektrum zu Hause fühlt.
Rödder ist überzeugt, dass das Handeln der Menschen in bester Absicht oft unvorhersehbare Nebenwirkungen und neue Probleme hervorbringt, die den ursprünglichen Intentionen entgegenstehen. Lyotards Abschied von der Ganzheit und sein Plädoyer für eine „radikale Pluralität“ (Wolfgang Welsch) waren nach Rödders Urteil wirkungsvoller, als vielen bewusst ist – vor allem in Bezug auf die Vorstellung von Geschlechterrollen und Minderheiten. Den Siegeszug des gender mainstreaming über traditionelle Familien- und Geschlechterbilder jedenfalls verurteilt der Historiker entschieden. Dem neuen Machtanspruch der Pluralitätsapostel tritt er so entschieden entgegen wie an anderer Stelle der totalen Ökonomisierung der Universität. Mag er sich willkürlich bei vielen Denkern bedienen - hier versteht Rödder, der auch CDU-Wahlkämpfer ist, keinen Spaß.
Der Absage des Autors an die „große Erzählung“ hat ihren Preis. Er besteht im Verzicht auf einen einheitlichen Erzählstrang und auf jedes Interesse für den individuellen Handlungsspielraum von politischen Akteuren. Menschen als entscheidende, historisch wirkungsmächtige Faktoren kommen kaum vor. Dafür liefert das Buch strukturgeschichtliche Querschnitte zu den wichtigsten Fragen der Gegenwart – und manche Wiederholung.
Zum Schluss steht der Leser kenntnisreich und ratlos unter der Zirkuskuppel des Weltgeschehens. Zu hoffen gibt es nichts, die Geschichte kennt keine Richtung, die Gegenwart ist ein dynamisches Gewimmel, das Rödder fein säuberlich nach Strukturen sortiert hat. Aber leider ändern sich auch Strukturen. Für den Umgang mit dieser Ungewissheit empfiehlt Rödder: „Nur wer offen dafür ist, dass alles auch ganz anders sein mag als gedacht, kann die Chancen des Unvorhergesehenen nutzen.“ Zur Verzweiflung gibt es für ihn auch nach knapp 400 Seiten Gegenwart keinen Grund.
Andreas Rödder: 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Verlag C.H. Beck, München 2015. 494 Seiten, 24,95 €.
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