Berliner Verlagsjubiläum: Wendig immer geradeaus
Was kommt nach der linken Vergangenheit?Wie steht es um die Zukunft des gedruckten Buchs? Der Berliner Wagenbach Verlag feiert 50. Geburtstag. Eine Begegnung mit der Verlegerin Susanne Schüssler
An einem lauen Maienabend anno 2001, der Umzug des Parlaments in den Reichstag lag gerade anderthalb Jahre zurück, wurde im Berliner Ensemble noch einmal die Bonner Republik bestattet. „Erich Fried erzählt Angela Merkel, wie es wirklich war“, hieß der Abend zu Ehren des erfolgreichsten politischen Lyrikers der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Frieds Verleger Klaus Wagenbach beschwor den Vietnamkrieg, die Epoche der Berufsverbote und alle möglichen Querelen, die sich entlang der Achse Auschwitz–Stammheim ergeben hatten – zur Mahnung der geschichtsvergessenen CDU-Vorsitzenden. Und zwei Stunden lang wurde der rebellische Wiener Jude Fried, 1988 im Londoner Exil gestorben, wieder lebendig.
Rückblickend wurde an diesem Abend auch der alte, im September 1964 beim Westberliner Gewerbeamt eingetragene Wagenbach Verlag zu Grabe getragen. Intern hatte Wagenbachs 32 Jahre jüngere Frau Susanne Schüssler im Januar 2000 die Geschäfte übernommen. Im Buchhandel dominierten die Megaläden der Ketten, und ein halbes Jahr später verschoben sich mit den Anschlägen auf das World Trade Center die weltpolitischen Koordinaten. Der Verlag reagierte mit einem klugen Büchlein des Politologen Ulrich K. Preuß unter dem Titel „Krieg, Verbrechen, Blasphemie“.
Die Proportionen zwischen der legendären linken Vergangenheit, die dem Haus auch einen fatalen Ausflug ins Kollektiv bescherte, und einer den Branchenverheerungen trotzenden Gegenwart sind nun, da Wagenbach das 50. Jahr seines Bestehens feiert und der Altverleger auf seinen 84. Geburtstag zusteuert, zwar noch längst nicht ausgeglichen. Doch wenn es ein Verlag mit immerhin 12 festen Mitarbeitern beherzt und traditionsbewusst in die zweite Generation geschafft hat, dann dieser „unabhängige Verlag für wilde Leser“, der mit kämpferischem Anspruch signalisiert, eher einen Tod in Freiheit zu sterben, als eine Unterwerfung in Ketten hinzunehmen.
Die profilierte Verlagsgeschichte, in der Jubiläumsanthologie „Buchstäblich Wagenbach“ (224 Seiten, 10 €) auch als bewegte Literaturgeschichte nachgezeichnet, erschwert es einerseits, die eigene Rolle in der politischen Gemengelage neu zu definieren – und dennoch erkennbar zu bleiben. Die großen literarischen Tanker pflügen einfach weiter durch die Meere. Die Mischung aus Prinzipientreue, Kontinuität und Wendigkeit erleichtert andererseits auch vieles. „Wenn man eine Programmpolitik macht, die wie die unsere auf die Backlist abzielt, ist die Vergangenheit nicht nur Image oder Mythos, sondern reines Kapital“, sagt Susanne Schüssler.
Der Blick aus ihrem Büro in der Emser Straße führt hinaus auf den Ludwigkirchplatz, auf dem Gang stapelt sich die frisch gedruckte Frühjahrsproduktion. „Wir machen rund die Hälfte unseres Umsatzes mit alten Titeln. Beim Einkauf neuer Bücher spekulieren wir nicht mit riesigen Vorschüssen auf kurzfristige Erfolge, sondern bauen darauf, dass die betreffenden Titel Longseller und damit Teil der Backlist werden.“ Die in rotes Leinen gebundene Reihe Salto, in der mittlerweile über 200 Titel erschienen sind, ist ihr Lieblingsbeispiel. In Jahren ohne eine Neuerscheinung des Publikumslieblings Alan Bennett hat sie sogar einen Backlist-Anteil bis zu 80 Prozent: „Davon können andere Verlage nur träumen.“
Die Verlegerin, 1962 in München geboren und noch immer mit einem bayerischen Akzent beschenkt, weiß aber auch, auf welche Spiele sie sich einlassen kann – und wo die Einsätze zu hoch werden. Michael Krüger, bis Ende 2013 charismatischer Chef des Hanser Verlags und als Mitherausgeber des Wagenbach-Jahrbuchs „Tintenfisch“ einst ein Verbündeter, dient ihr als abschreckendes Beispiel. „Ein US-Verleger hat neulich gegiftet, er bewundere Krüger vor allem dafür, wie er viele mittelmäßige Autoren zur Weltliteratur erklärt und sie auch als solche verkauft. So scharf würde ich es nicht formulieren, aber hinter Hanser steckt doch eine riesige Marketing-Maschine, die nur nicht immer funktioniert.“
Die Internationalität wächst - nur die Deutschen haben nichts zu bieten
Wagenbachs Entdeckung und langjährige Autorin, die Schottin A. L. Kennedy, ging mit ihrem jüngsten Roman für einen hohen Vorschuss an Hanser, brach, verglichen mit Wagenbach, von der Auflage her aber völlig ein. „Jetzt ist wiederum der Deutsche Taschenbuch Verlag sauer, der die Rechte mitbezahlt hat. Das wirklich Schlimme ist aber, dass die Autorin als Gelackmeierte dasteht. Unsere Verträge sind ausgelaufen, und Hanser wird den Teufel tun, die alten Titel wieder aufzulegen. Wenn ich A. L. Kennedy jetzt von unserer Liste streiche, ist sie auf dem deutschen Buchmarkt nicht mehr präsent. Autoren wie Luigi Malerba, von dem wir bis heute fast alle Bücher liefern können, sind da mit uns gut beraten.“
Ja, die Italiener. Es gibt keinen Verlag, der mehr italienische Titel im Programm hätte. Doch der Blick hat sich längst geweitet. „Unsere spanischsprachigen Autoren stammen heute überwiegend aus Lateinamerika. Der geografische Raum ist überhaupt enorm gewachsen. Viele unserer Autoren stehen zwischen zwei Kulturen, ich denke etwa an Daniel Alarcón zwischen Peru und Amerika. Neuerdings ist uns mit der gebürtigen Marokkanerin Saphia Azzeddine und dem aus Benin stammenden Ryad Assani-Razaki auch Afrika nähergerückt. Sofern es um englischsprachige Bücher geht, will ich auch Asien nicht ausschließen.“
Nur mit den Deutschen geht es nicht voran. Wie auch? „Wenn man die Chance hat, in den Sprachen, die wir im Lektorat lesen können, nämlich Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch, von den besten Verlagen die besten Bücher angetragen zu bekommen, und dagegenhält, was von deutschen Autoren so kommt, passiert es eben, dass nur alle drei, vier Jahre etwas Lohnendes dabei ist. Und wenn man unsere Nachbarn ansieht, kämpfen sie in ihren Literaturen, auf die Gesamtproduktion bezogen, ebenfalls mit Stagnation und Langeweile.“ Die Institution des Konsenslektorats tut ein Übriges. Alle Lektoren müssen dabei dem Kauf eines Buches zustimmen. Ausnahmen gestattet nur eine „Herzklausel“.
Die sehr viel schwierigere Erneuerung findet im Sachbuch statt. „Von einem neuen Buch des Kulturhistorikers Peter Burke hätten wir vor 20 Jahren aus dem Stand 10 000 Exemplare verkauft“, sagt Susanne Schüssler. „Heute zitiert man in akademischen Kreisen aus dem Original – und kauft im Netz oft nur noch einzelne Kapitel.“
Mit dem „Freibeuter“ ging 1999 auch die publizistische Speerspitze des Verlages verloren. 80 Mal in 20 Jahren begab er sich auf Ideenjagd. Benannt nach Pier Paolo Pasolinis konsumismuskritischen „Freibeuterschriften“, die Wagenbach mit phänomenalem Erfolg auf Deutsch veröffentlicht hatte, war er zumindest in den ersten Jahren eine grün-linke Wundertüte mit literarischen Beigaben – ein Organ, das sich bestens neben „Merkur“ und „Kursbuch“ behaupten konnte.
An eine Neuauflage des Projekts lässt sich kaum denken. „Es war nicht so sehr der wirtschaftliche Faktor, der zum Aus des ,Freibeuters’ führte, sondern dass sich das System Zeitschrift überlebt hatte. Viele Diskussionen fanden plötzlich täglich im Feuilleton statt, als Vierteljahresschrift ist man da hoffnungslos im Hintertreffen.“ Aber wer weiß, welche Chancen die Zeitungskrise eröffnet?
Wagenbach hat sich und seine Leser mit der vor fünf Jahren wiederbelebten Reihe Politik getröstet. Aber zwischen Frühwarnsystem und Nachklapp sind auch diese Essays von jeweils 100 Seiten nicht unproblematisch. „Mit Haci-Halil Uslucans ,Dabei und doch nicht mittendrin’ hatten wir 2011 einen hervorragenden Titel über die die Integration türkeistämmiger Zuwanderer. Doch nach der Sarrazin-Debatte wollte davon niemand mehr hören. Das Buch ging unter wie ein Stein. Bahman Nirumands Analyse ,Iran Israel Krieg’ dagegen kam im September 2012 genau zum richtigen Zeitpunkt, und das Schöne ist, dass es nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.“
Die Schlacht um die Zukunft des Verlages, in der sich auch der Kampf um die Zukunft des gedruckten, sorgfältig lektorierten und schön ausgestatteten Buchs im Allgemeinen spiegelt, wird dabei an vielen Fronten geführt – vor allem im Buchhandel. „Wenn Hugendubel und Thalia nun immer weiter in finanzielle Bedrängnis geraten, verlieren wir natürlich Geld und Vertriebskanäle. Mein Mitleid mit den Ketten ist aber begrenzt.“ Nicht nur, dass sie die alteingesesenen Buchhandlungen vielerorts verdrängt haben, um nun selbst der Insolvenz ins Auge zu sehen, sie nehmen von einem Bestseller wie Bennett zwar 1300 Stück aufs Zentrallager, aber keinen einzigen der anderen Titel. Damit lässt sich keine literarische Kultur erhalten.
„Jede gut gehende Buchhandlung“, sagt Schüssler, „muss etwas bieten, das Amazon nicht bieten kann. Und die Ketten wackeln, weil Amazon im Zweifel besser ist als ihre Filiale. Wir machen unseren Umsatz hauptsächlich im mittleren und kleinen Buchhandel, und der umfasst seit Jahr und Tag ziemlich genau 200 Buchhandlungen. Es sind nur nicht dieselben wie vor 20 Jahren. Gerade in Berlin haben viele kleinere neu aufgemacht. Für die tun wir alles, wie für kleinere Ketten – Osiander im Schwäbischen oder Pustet in Bayern.“ Kritik wirkt da nur als Begleitschutz und Verstärker – außer es fängt auf einmal zu rauchen, stinken und lärmen an. So hat es dem Erfolg von Horst Bredekamps gerade erschienenem Essay über Karl, den Großen, nicht im mindesten geschadet, dass der Kunsthistoriker jüngst auf gefälschte Galilei-Zeichnungen hereinfiel. Es hat ihm, Susanne Schüssler muss es fast peinlich berührt zugeben, sogar genützt.
Vom 14.3. bis 25.4. zeigt das Leipziger Haus des Buches (Gerichtsweg 28) eine Ausstellung zu 50 Jahren Wagenbach, die Ende Mai auch in die Berliner Staatsbibliothek kommt. Am 27. 3. um 20 Uhr lesen, vorgestellt von Susanne Schüssler, im Literarischen Colloquium Berlin fünf junge Autoren einer neuen Reihe: Orfa Alarcón (Mexiko), Arthur Larrue (Frankreich), Owen Martell (England), Eva Roman (Deutschland) und Paola Soriga (Italien).