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Die Lyrikerin Sarah Kirsch starb 2013 im Alter von 78 Jahren.
© dpa

Nachgelassene Tagebücher von Sarah Kirsch: Weltrandwettereien

Vom dörflichen Weltrand aus hält Lyrikerin Sarah Kirsch in ihrem nachgelassenen Tagebuch "Juninovember" globale Katastrophen fest - mitfühlend und empört.

Posthum veröffentlichte Aufzeichnungen haben ihren eigenen Charme. „Ich will in Ruhe vertrotteln“, notierte die Dichterin Sarah Kirsch 2002. Da wohnte sie schon 20 Jahre im 150-Seelen-Ort Tielenhemme am westlichen Rand Schleswig- Holsteins und hatte noch elf Jahre zu leben. Das Vertrotteln aber gelang ihr nicht. Nach wie vor übte sie sich in Scharfsicht und Sprachmagie. Unverkennbar der ironische, auch selbstironische Unterton, aber auch das fassungslose Staunen, mit denen sie den Alltag in der rauen Idylle verarbeitete.

Von Werden und Vergehen von Flora und Fauna, von Wettererscheinungen und jäh einbrechenden Katastrophen berichtet sie mit schrägem Blick. In der selbst gewählten Einsamkeit, die sie mit ihrem Sohn Moritz teilte, genannt Maurice oder „Der Blaue Mauritius“, ließ sie sich vom Anrufbeantworter wie von einem „Kampfhund“ bewachen. Krähen krächzen über das Haus Eiderdamm 22, Graupelschauer klappern auf die Fenster, Nebel und Schnee sind ihre liebsten Begleiter. Beschwerlich wurden ihr Lesereisen, die sie nur ungern unternahm, dann aber die Ortsnamen zu Wortspielen nutzte, wie bei der Eröffnung ihres Geburtshauses als Gedenkstätte im Harz.

Aus Limlingerode wird Lümmelingerode, Bimlingerode oder gar Winzigerode. Sprachwitz vagabundiert durch das Diarium, aber auch viel Nonsens zwischen „Nebul“, „Fotul“, „Insul“ und „Artikul“. Wenn sie nicht in der Natur unterwegs ist, sich den Vögeln, Katzen und Schafen widmet oder schreibt, ist sie mit dem Malen von Aquarellen beschäftigt. „Wenn man gerade Maler ist, so hat man eine robustere Seelenlage als im Zustand des Schreibens. So kam es mir jedenfalls vor wenn ich kleckste. Viel unempfindlicher, eingehüllt“, notiert sie am 22. Januar 2003. Die Aquarellmalerei betrachtet sie nicht als ihre Berufung, vergleicht sie mit den Scherenschnitten der Droste- Hülshoff, der sie einst „gern Wasser reichen würde“ – wie sie in einem Gedicht aus dem Band „Zaubersprüche“ 1973 betonte. Die „Aquareller“: Nebenwerke, die ihr für eine Ausstellung gut genug erschienen und ein willkommener Nebenerwerb waren: „Bisserl Göld können wir gut gebrauchen.“

"Juninovember": Zauber und Verwandlung

Manche Abschnitte in „Juninovember“ erscheinen dem Leser wie kleine bewegliche Gemälde. Das Tagebuch beschränkt sich indes nicht auf minutiöse Beschreibungen des Aufenthalts in „Wahnsinnswolkenlandschaften“, in Beschreibungen des Alltags und sarkastischen Kommentaren zum Weltgeschehen. Es enthält auch zahlreiche eingestreute, unveröffentlichte Gedichte und Gedichtfragmente. Die Autorin nennt sie „Knopflochgedichte“. Sie sind minimalistisch kurz, unterscheiden sich aber von der Statik des Haikus durch die meist mitgedachten beweglichen Prozesse. Märchenmotive aus früheren Schaffensperioden Kirschs klingen hier an: Zauber und Verwandlung.

Die Gedichte sind komponiert aus traumhaft irrealen Bildern, durchzogen von Sinnsprüchen und enthalten in verkappten Reimen die Geräusche von Regen und Wind. Sie sind auch alles andere als beschaulich, denn Jahreszeit und Lebenszeit fallen in eins, wenn die Dichterin „Schwermutsfäden“ spannt und „Feuerblumen im Winter“ malt.

Vom 23. September 2002 bis zum 28. März 2003 hält dieses Tagebuch auch globales Geschehen fest, das mit dem Leben am „Weltrand“ kontrastiert. Ob Flugzeugunglücke, Attentate, Terroranschläge oder der beginnende Irakkrieg – immer ist Sarah Kirsch per TV und Radio mitfühlend oder empört mittendrin. George Bush jr. heißt bei ihr „der kleene minderbemittelte Schorsch“.

Ihre Wetterei, auch gegen manche Aufreger des Literaturbetriebes jener Jahre, ist herzerfrischend. Ihre Lektüre-Notizen lassen sich als verlässlicher Kompass für Lesehungrige nutzen. Die Bücher des Japaners Yasushi Inoue sind ihr die liebsten. Und bei Judith Hermann findet sie jene Fremdheit, Vergeblichkeit und Einsamkeit, die auch ihr eigenes Leben bestimmten.

Sarah Kirsch: Juninovember. DVA, München 2014. 208 Seiten, 19,99 €.

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