Rolando Villazón in Salzburg: Was willst du mit dem Dolche, sprich!
Bei den Salzburger Festspielen begeistert Startenor Rolando Villazón in der Titelrolle von Mozarts "Lucio Silla". In prachtvollen Kostümen und Dekorationen entsteht eine Aufführung von feuriger Lebendigkeit.
Es ist brutal. Und es geht jetzt schon seit über sechs Jahren so. Seit der ersten Stimmkrise von Rolando Villazón. Wie ist er heute drauf?, fragt sich das Publikum vor jedem Auftritt, und: Wird er es diesmal packen? Dabei gibt es keinen Opernfan, der dem Mexikaner nicht von Herzen alles Gute wünschen würde. Denn einen wie ihn, der darstellerische Dringlichkeit und Sängerintelligenz, Witz, Mut und stilistische Neugier vereint, erlebt der Musiktheaterbetrieb nur alle paar Jahrzehnte.
Am Samstag in Salzburg kann er. Und wie: Im Haus für Mozart gibt er den rasenden Rolando. Er ist der Titelheld in „Lucio Silla“, einem Jugendwerk des 16-jährigen Wolferl, komponiert 1772 für Mailand. Die opera seria spielt in Rom im ersten vorchristlichen Jahrhundert: Diktator Silla liebt die Patriziertochter Giunia, die aber empfindet für ihn nur Hass, weil er ihren Vater ermordet und ihren Verlobten verbannt hat. Im Laufe der drei Akte wird der Dolch zum wichtigsten Requisit, diverse Mordattacken werden geplant und Todesurteile gefällt – bis Silla doch noch zur Selbsterkenntnis vordringt und abdankt.
Durch die Stimmbandoperationen hat Villazóns Tenor viel von seinem südländischen Schmelz verloren, von der sinnlichen Üppigkeit. Er ist heller geworden, schlanker – das macht den Sänger nun zum idealen Mozart-Interpreten. Denn die Leidenschaft ist natürlich noch da. Und sie wird von Marc Minkowski am Pult der Musiciens du Louvre mächtig befeuert. In dieser Aufführung, der man getrost das Prädikat „perfekt“ verleihen darf, stacheln sich Orchester und Sänger gegenseitig zu immer noch mehr interpretatorischer Verve an. Hochenergetische dreieinhalb Stunden lang.
Neben Rolando Villazón stehen vier formidable Frauen auf der Bühne: Olga Peretyatko, Marianne Crebassa, Inga Kalna und Eva Liebau, Koloraturvirtuosinnen allesamt und dabei jede auf ihre Art faszinierende Persönlichkeiten. Regisseur Marshall Pynkoski, der sich schon in seiner ersten Karriere als Tänzer für die Bühnenästhetik des 18. Jahrhunderts interessierte, vermag das schauerliche Geschehen in anmutige, fließende Bewegungen umzusetzen, bewusst bereichert um manche mainrierte Geste, wie sie zur Zeit der Uraufführung üblich war.
So entsteht eine historisch informierte, aber nicht historisierende Inszenierung, wird die Zeitlosigkeit menschlicher Gefühle auf berührende Art deutlich, auch wenn die Darsteller Barockroben tragen und in einem antikisierenden Dekor agieren. Récamiere und Sekretär in römischem Stil, aus rohen Planken gezimmerte Säulen und Treppen, ein bühnenbreiter Scherenschnitt der Campagna mit Pinien und Zypressen, dazu gemalte Prospekte mit Herrscherpalästen, Grabkammern, Verliesen – was Ausstatter Antoine Fontaine mit Kennerhand geschaffen hat, berauscht das Auge.
Weil Mozart in Mailand nur ein unerfahrener Einspringer für die Titelpartie zu Verfügung stand, findet die Läuterung seines Lucio Silla in dürren Rezitativzeilen statt. Aus einer Vertonung desselben Stoffes durch Johann Christian Bach hat Marc Minkowski darum die dramaturgisch passende Arie entliehen. So inniglich Rolando Villazón sie auch singen mag, in diesem direkten Vergleich wird Mozarts Genie erst richtig greifbar: Wo der Bach-Sohn nur betulich konventionelle italienische Formen ausfüllt, erfasst der Salzburger Teenager jede Stimmung, jede Situation viel sensibler und gibt ihr einen eigenen, treffenden Ton.
Frederik Hanssen