Buch über Napoleon-Mythos: Was von Übel ist
Sozialistischer Störenfried: Der frühere französische Premierminister Lionel Jospin dekonstruiert in seinem Aufsehen erregenden Buch "Le Mal napoléonien" den Napoleon-Mythos.
Frankreich leidet nicht nur unter Reformstau, sondern auch an einem angekränkelten Selbstbewusstsein – und das nicht erst seit dem fatalen Rechtsruck bei den Europawahlen. Als Antidepressivum wird die historische Erinnerung beschworen, sofern sie der Verklärung dient. Doch die dazu benutzten Jahrestage sind nicht ohne Ambivalenz, denn es jähren sich ja nicht nur der Erste Weltkrieg (1914) oder die Landung in der Normandie (1944), sondern auch die Niederlage im Indochinakrieg (1954).
Die Selbstfeier wird seit Anfang März auch durch einen Essay des ehemaligen sozialistischen Premierministers Lionel Jospin gestört. In „Le Mal napoléonien“ (Éditions du Seuil, 234 Seiten, 19 €) setzt er sich mit einem Napoleon-Mythos auseinander, der keiner kritischen Betrachtung standhält. Dies offen auszusprechen ist mutig, denn die Verehrung des militärischen Genies, das vom General der Revolution zum Kaiser, von Bonaparte zu Napoleon I. mutierte, ist in Frankreich ungebrochen.
Der Essay bietet eine nüchterne Chronik und eine klare Bilanz der Napoleonherrschaft. Zwar anerkennt Jospin die bleibenden Leistungen des Ersten Kaiserreichs auf den Gebieten der Verwaltungsreform und des Rechts (Code Civil), er zeigt aber auch, dass die Herrschaft mit polizeilicher Repression und mit Propaganda abgesichert wurde und weder von Meinungsfreiheit noch industriellem Fortschritt die Rede sein konnte. Eine wirkliche Legitimität hat der französische Kaiser nie besessen; er sicherte sich ab mit manipulierten Referenden und einer selbst geschaffenen Oligarchie.
Alle emanzipatorischen Ansätze der Revolution wurden erstickt, es galt eine klare Hierarchie im Dienste eines persönlichen Machtstrebens, zudem eine permanente Kriegsanstrengung, wobei die Lasten ungleich verteilt waren: Die Söhne der Wohlhabenden konnten sich vom Wehrdienst freikaufen. Die Franzosen waren keine Bürger mehr (citoyens), sondern wieder Untertanen (sujets). In den Institutionen zeigte sich Napoleons Abneigung gegen Versammlungen, Parteiungen und freie Willensbildung; Frauenrechte waren unerwünscht, die Sklaverei in den karibischen Kolonien wurde beibehalten, jeder Aufstand niedergeschlagen.
Napoleon - Vater Europas?
Jospin wendet sich gegen die oft anzutreffende Meinung, Napoleon sei eine Art Vater Europas. Zu desaströs ist die militärische Bilanz – trotz aller strahlenden Siege, die wie am vergangenen Samstag in Montmirail als Spektakel nachgestellt werden, deren Schauplätze noch heute im Pariser Stadtplan verewigt sind und trotz der opulenten Beutekunst, die den Louvre füllt. Die Opferzahlen in Frankreich selbst wie in den Nachbarländern sind erschreckend hoch.
In Polen, Italien und vor allem Deutschland diskreditierte Napoleons Politik die fortschrittlichen Ideen auf lange Zeit und erzeugte antifranzösischen Hass. Dieser Aspekt gehört zu den bemerkenswertesten Seiten des Buches, denn in Frankreich wird nicht verstanden, dass die anderen Völker alle Schattenseiten einer Okkupation zu durchleiden hatten. Napoleon, so Jospin, habe weder das eigene noch die anderen Völker emanzipiert.
Propaganda auf höchstem Niveau hat die Machtentfaltung von vornherein begleitet, Napoleon selbst hat sie gleichsam in die künftigen Schulbücher diktiert. Das Massaker an Zivilisten durch französische Soldaten in Jaffa wurde überspielt mit der Legende von Napoleons Besuch bei den Pestkranken in jener Küstenstadt. Niederlagen mussten immerfort ausgeblendet werden, etwa die Völkerschlacht bei Leipzig, die bis heute in Frankreich kaum bekannt ist – bei Jospin wird sie wenigstens erwähnt.
Das napoleonische Übel
Von Napoleon blieb eine französische Besonderheit, der Bonapartismus, oder wie es Jospin im Titel nennt, das napoleonische Übel. Damit meint er ein Regime der uneingeschränkten Machtentfaltung, das nach innen gleichschalterisch und nach außen hegemonial auftritt, mit einer charismatischen Rettergestalt im Zentrum. Die Napoleon-Legende wurde nach dem Tod des verbannten Kaisers mit allen damaligen Medien verbreitet, gerade im niederen Volk, mit Holzschnitten, Liedern, Balladen, Romanen, Theaterstücken, Reliquien. So wurde zwischen 1852 und 1870 ein zweites Kaiserreich möglich, das aber ebenfalls mit einem militärischen Debakel endete (im Krieg gegen Preußen-Deutschland). Das Second Empire war eine mildere Diktatur, die sich in eine liberale Richtung entwickelte, wirklichen Fortschritt ermöglichte und vor allem das schöne Paris schuf. Gleichwohl wird es in der Erinnerung viel negativer bewertet als das Erste Kaiserreich mit seiner Blutspur.
Jospin untersucht auch das Nachleben des Bonapartismus. Das Vichy-Regime unter Marschall Pétain wird von Jospin paradox als „Bonapartismus der Niederlage“ bezeichnet. Bei General de Gaulle entdeckte er zwar Spuren von Bonapartismus, insbesondere im Staatsstreich von 1958, sieht aber sonst keine Anzeichen dafür beim Gründer der Fünften Republik. Jospin bleibt Politiker genug, um auf die gegenwärtige Krise einzugehen, in der er Nachwirkungen des Bonapartismus erkennt: autoritäre Versuchung, pauschale Elitenkritik, diffuser Appell ans Volk mitsamt dem Versuch, neue Führergestalten zu etablieren.
Ein verklärtes Bild der eigenen Geschichte gehört seit den Anfängen der Dritten Republik zum moralischen Fundament des politischen Systems. Der Napoleon-Mythos ist ein wesentlicher Teil davon, weil sich in ihm französische Überlegenheit zeigt, aber das, so Jospin, sei die Verwechslung der Gloriole eines Mannes mit der Größe eines Volkes.
Gegen nationale Depression, wie sie derzeit Frankreich plagt, weiß auch Jospin, hilft kein rückwärts gewandter Traum von Größe und Ruhm. Der geborene Protestant und Sohn eines Philosophen, der einstige Trotzkist und Neuorganisator der Sozialistischen Partei unter François Mitterrand, der unterlegene Präsidentschaftskandidat von 2005 will mit seiner Mythenkritik zu einem aufgeklärten französischen Selbstbild beitragen. Der große Erfolg seines Buches gibt Anlass zur Hoffnung.
Manfred Flügge
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