Neues Album von St. Vincent: Was mich anmacht, was mich ausmacht
Annie Clark alias St. Vincent spielt auf ihrem Art-Pop-Album „Masseduction“ mit Gefühlen, Gegensätzen und Gitarrenverzerrern.
Masseduction, massseduction, massdestruction. Mit verzerrter Stimme zischt St. Vincent im Refrain ihres Songs „Masseduction“ über einen hämmernden Beat. Diese Art von Wortspielerei ist typisch für die Musikerin. Sie ist bekannt für die gewitzte Doppeldeutigkeit ihrer Lieder, die sie auch mittels ungewöhnlicher Instrumentierungen erzielt.
Seit jeher zieht die Multiinstrumentalistin es vor, harmonische Strukturen zu brechen, statt sie zu befolgen. Auf ihrem sechsten Studioalbum tut St. Vincent, mit bürgerlichem Namen Annie Clark, das auf besonders subtile Art und Weise. Dabei sucht man ihr markantes Gitarrenspiel mit den funkigen Riffs, die jedem Standard-Timing trotzen und dennoch in einen Viervierteltakt passen, auf der neuen Platte vergebens. Das heißt aber nicht, dass Clark ihre Gitarre in die Ecke gestellt hat.
Im Telefoninterview erklärt sie, dass sie dieses Mal besonders intensiv mit Effekten herumgespielt habe. Eine E-Gitarre könne ja mit dem richtigen Pedal auch wie ein Keyboard klingen. „Am besten war die Verzerrung des Sound-Pedals, das Jack Antonoff aus Indien mitgebracht hat“, sagt Clark mit ihrer hellen Stimme.
Sie spielt ihre Gitarre gern leicht verstimmt
Antonoff, selbst Musiker und Mitglied der Pop-Gruppe Fun, hat die Platte mit ihr zusammen produziert. Im Studio hatte sie alle Freiheiten für Experimente und ließ sich für die 13 neuen Songs vom New Wave der Achtziger und Industrial-Bands wie den frühen Nine Inch Nails inspirieren. Vieles klingt deshalb elektronisch, die Beats sind eingängig und haben ordentlich Druck. Der Titelsong ist da keine Ausnahme und hat Hitpotenzial. Aber auch wenn „Masseduction“ zuerst wie ein radiotauglicher Popsong klingt, ist der krumme und verzerrte Gitarreneinwurf zwischendurch genau das Element, das aneckt und überrascht. „Ich liebe es, meine Gitarre dissonant und etwas verstimmt zu spielen. Ich mag diese Aggression und das Hässliche darin“, sagt Clark dazu.
Diese Liebe zum Schroffen dürfte auch mit St. Vincents früher Faszination für Grunge-Musik zusammenhängen. Als Nirvanas „Nevermind“ herauskam, war Clark neun Jahre alt. Sie hat schon oft deren Wichtigkeit für ihren Lebensweg betont: Ohne diese Platte hätte sie nicht angefangen, Musik zu machen. Davon inspiriert verbrachte sie Tage im Kinderzimmer in Dallas und experimentierte mit ihrer Gitarre und Stimme. Deshalb kann sie es bis heute kaum fassen, dass sie 2014 mit Dave Grohl und Krist Novoselić an Kurt Cobains Stelle bei Nirvanas Aufnahme in die Rock And Roll Hall of Fame spielen und singen durfte.
St. Vincent glaubt an sexuelle und genderbezogene Fluidität
Durch diesen Auftritt sowie den Grammy, den sie vor zwei Jahren für ihr Album „St. Vincent“ bekam, wurde sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Magazin-Cover und Musiker-Kooperationen folgten. Ihre Beziehung mit dem Model Cara Delevigne und später mit der Schauspielerin Kristen Stewart wurden in der Klatschpresse ausgeschlachtet. Obwohl Clark eine sehr private Person ist, betont sie in Interviews, dass sie ihre Sexualität nicht kategorisiert. Sie identifiziere sich nicht mit Begriffen wie homo- oder heterosexuell. Vielmehr glaube sie an sexuelle und genderbezogene Fluidität. Der Rummel um ihre Person und um ihre Queerness ist ihr egal: „Ich störe mich nicht daran. Wäre ich mit 19 über Nacht berühmt geworden, hätte ich bestimmt ein Problem. Ich weiß schon lange, wer ich bin und wo meine Prioritäten liegen“, sagt die 35-Jährige am Telefon.
Sie wolle mit ihrer Musik ein Medium schaffen, zu dem sich jeder eine eigene Meinung bilden könne. Dabei lockt sie ihr Publikum immer wieder auf falsche Fährten. Bei „Masseduction“ beginnt das schon mit dem knallroten Cover. Darauf streckt eine nach vorne gebückte Frau in pinker Leggins dem Betrachter ihr Hinterteil entgegen. Das Outfit mit Tanga-Body in Leo-Optik und roten Lack-High-Heels schreit nach Barbie und dem Look der achtziger Jahre. Das Gesicht ist verdeckt, die Figur schlank wie die von Annie Clark. Aber es ist nicht die Musikerin, die auf dem Bild provoziert. Das wäre zu einfach, zu wenig doppeldeutig.
Am Telefon wird deutlich, wie bedacht die Musikerin ist. Sie nimmt sich mitunter so viel Bedenkzeit, dass man zweifelt, ob sie überhaupt noch in der Leitung ist. Und auch wenn Clarks Gesellschaftskritik nie offensichtlich ist, sind ihre Denkanstöße in der Musik und in ihren Texten persönlich und wohlüberlegt. Deshalb drücken Zeilen wie „ I can’t turn off what turns me on“ im Titelstück von „Masseduction“ auch eine Dualität aus, in der man sich selbst wiederfinden kann. Clark liebt es, Gegensätze zu vereinen.
Die Texte sind persönlicher denn je
Auf dem Album befinden sich auch eine Ost- und eine Westküstenhymne. Die Städte New York und Los Angeles kennt Clark gut. Bevor sie 2006 anfing, unter ihrem Alias St. Vincent professionell Musik zu machen, zog sie aus Texas nach New York. Bis heute hat sie dort eine Wohnung. Durch das neue Album, das zum Teil in Los Angeles aufgenommen wurde, verbrachte sie aber auch viel Zeit in Kalifornien. Die Songs „Los Ageless“ und „New York“ spiegeln die unterschiedlichen Lebensarten beider Städte. Die Klavierballade „New York“ steht im Kontrast zum Uptempo-Beat von „Los Ageless“, dessen Titel auf den Schönheitswahn der West-Coast-Metropole anspielt. Trotzdem sind beides Liebeslieder.
„Wenn man die Texte genau untersucht, dann ist das mein persönlichstes Album“, sagt Clark. „Möchte man etwas über mein Leben erfahren, dann muss man einfach genauer hinhören.“ Am Ende von „Los Ageless“ murmelt Clark „I try to write you a love song but it comes out all sick“. So viel Sehnsucht, Poesie und Verletzlichkeit kommen ihr nur schwer und leise über die Lippen. Sobald einem das klar wird, kann man gar nicht anders: Man befindet sich ganz tief in St. Vincents experimentellem Gitarren-Synth-Erlebnis – und will gar nicht mehr raus.
St. Vincent: „Masseduction“ erscheint am 13.10. bei Caroline. Konzert: 26.10., 20 Uhr, Huxleys Neue Welt
Lorina Speder
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