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Deutschland im Humboldt-Rausch. Auch Bier mit dem Entdecker gibt es nun. Na, dann Prost.
© Nicolas Armer/dpa

Sechs Jahre auf den Fersen des Forschers: Was man als Biograf alles mit Alexander von Humboldt erlebt

Die Welt feiert Alexander von Humboldts 250. Geburtstag. Hier erzählt sein Biograf von seiner Begegnung mit dem Hype. Und was man von AvH heute lernen kann.

Die Reise kann überall beginnen. Also in den Anden, in Ecuador, Februar 2019. Auf gut 3000 Metern Höhe stoppt die stark bewachte Wagenkolonne des Bundespräsidenten, auf dem Programm steht ein Besuch im Naturschutzgebiet Antisana. Kondore sollen hier beobachtet werden.

Doch dem Staatsgast aus Deutschland, der sich auf den Spuren des Entdeckers, Schriftstellers und Abenteurers Alexander von Humboldts bewegt, folgt auch ein Hubschrauber. Geleitschutz aus der Luft. Das verschreckt die großen Vögel, el condor passé.

Auf einem Baum am Straßenrand dann aber – ein Kolibri. Mir gelingt eine hektische Aufnahme, und schon ist der kleine Vogel abgeschwirrt. „This is why we are botanists. Plants don’t fly away“, sagt Sarah Darwin.

Die Ururenkelin von Charles Darwin – ebenfalls eine Humboldt-Anhängerin – gehört zu Frank-Walter Steinmeiers Delegation, wie auch ihr Ehemann Johannes Vogel, der Generaldirektor des Berliner Museums für Naturkunde.

Das Naturkundemuseum hat im Alexander-von-Humboldt-Jahr eine Ausstellung mit Mineralien eröffnet, die AvH mitgebracht hat von seinen Reisen. Auch Steine fliegen nicht davon. Das Haus besitzt Humboldts ausgestopften Papagei. Er hörte auf den Namen Jacob und war seinem Herrn viele Jahre ein treuer Zuhörer.

„#WirsindHumboldt“, so heißt eine Initiative der Humboldt Universität zum 250. Geburtstag von AvH, der in Berlin und vielen Städten Lateinamerikas groß gefeiert wird.

Meine Humboldt-Biografie ist im März 2018 erschienen, ich bin seit sechs Jahren Humboldt, so lange beschäftige ich mit intensiv mit diesem Kosmos, der sich wie das Universum um und über uns, in dem wir nicht einmal Sandkörner sind, ausdehnt.

Humboldt erlebt einen Hype. Wie lange hält das über den 14. September, das Jubiläum hinaus?

Das Schönste an Büchern ist ihr Eigenleben. Was einem mit ihnen widerfährt, auf Reisen, bei Lesungen und Vorträgen. Ein achtjähriger Junge hat mich gefragt, ob und wie Alexander auf seiner fünfjährigen Amerika-Expedition im Dschungel Geburtstag gefeiert hat. Das hat den Kinderradio-Reporter am meisten beschäftigt. Ich konnte seine tolle Frage nicht beantworten.

AvH in aller Munde. Ich habe Humboldt-Bier aus Franken getrunken und den ausgezeichneten Humboldt-Gin aus dem Spreewald. In Seattle, an der Westküste der USA, waren die Humboldt-Kumamoto-Austern die besten, im Supermarkt dort entdeckte ich „Humboldt Fog“-Käse. Humboldt, eine bewusstseinserweiternde Droge: Im Internet kann man bei der Firma „Humboldt Seeds“ Hanfsamen aus Kalifornien bestellen.

In Havanna gab es eine Schwulenbar, die seinen Namen trägt, aber da war ich jetzt noch nicht. Der Laden scheint dichtgemacht zu haben.

Was mich zu der Frage bringt, die immer am Ende einer Humboldt-Lesung gestellt wird, meist von einer älteren Dame: War er verheiratet? Oder warum war er nicht verheiratet?

Nun, er liebte Männer und war auch bei Frauen manchmal nicht abgeneigt. Er war bis ins hohe Alter, auf Reisen, unterwegs in großen Städten, wo es die Zeitgenossen freier und lustiger trieben als im damals engen und prüden Berlin.

Alexander von Humboldt wird sich zurechtgefunden haben. Er war berühmt, stets unter Menschen, alle Türen standen ihm offen. Humboldts Liebesleben mit all seinen Verstecken kann man sich als eine Mischung aus heftigen Aufwallungen, langen Durststrecken, viel Herzschmerz und einer Variation von mehr oder weniger bequemen Lösungen im Alltag vorstellen.

Humboldt war ein positiv Verrückter

Das ist, zugegeben, eine queere, großstädtische Perspektive des 21. Jahrhunderts. Aber Alexander hat das Recht auf ein Privatleben. Weder ist es ihm bigott-gewaltsam abzusprechen noch übergriffig anzudichten, beides passiert mit ihm in der biografischen Literatur.

Ich frage einen Herzspezialisten nach Humboldts eiserner Gesundheit. Er hat auch keine Erklärung dafür, dass AvH offenbar nie krank war auf all seinen Eskapaden. So gut wie nie sprach er über körperliche Gebrechen. Was die Lösung sein könnte: Wer nicht jammert, der hat auch nichts, kraft der Autosuggestion.

Immer mehr stelle ich fest, dass Humboldt ein positiv Verrückter war, mit all seinen Gewalttouren und lebensgefährlichen Experimenten, seinem unfassbaren Arbeitspensum. Wofür hat er sich nicht interessiert? Und ständig machte er Pläne.

Er wollte ein Zentralinstitut der Naturwissenschaft in Mexiko gründen

In den 1820er Jahren, vor der Rückkehr ins ungeliebte Berlin, das er so lange wie möglich mied, notiert er schwärmerisch: „Ich habe den großen Plan eines großen Zentralinstituts der Naturwissenschaften des freien Amerika in Mexiko.“

Den Kaiser von Mexiko kenne er persönlich, er werde aber bald einer republikanischen Regierung Platz machen.

Der Mittfünfziger fügt hinzu: „Dieser Plan eines Instituts in Mexiko schließt nicht eine Rundreise nach den Philippinen und Bengalen aus. Das ist eine sehr kurze Exkursion, und die Philippinen und Kuba werden wahrscheinlich vereinigte Staaten mit Mexiko bilden.“

Der Meister konnte auch großartig Scheitern

Zu all dem kam es nicht. Humboldt war auch groß im Scheitern. Er hinterlässt ein gigantisches Werk, das fragmentarisch bleibt und sich jetzt erst ordnet. Die Reise führt durch viele Teile Berlins. Im Humboldt-Klinikum war ich zu Gast, an der HU, in der Humboldt-Bibliothek, demnächst am Humboldt-Gymnasium.

Bei einem Abend mit Stipendiaten der Alexander-von-Humboldt-Stiftung erkundigt sich ein junger Mann nach Humboldts Verhältnis zu Aimé Bonpland, dem langjährigen Begleiter, Freund und Mitarbeiter.

Im Strom der Daten, im Reich der Bücher. Humboldt in seinem Arbeitszimmer Berlin, Oranienburger Straße, 1843.
Im Strom der Daten, im Reich der Bücher. Humboldt in seinem Arbeitszimmer Berlin, Oranienburger Straße, 1843.
© imago

Bonpland war nach Südamerika ausgewandert, lebte in Paraguay und Argentinien, wo er 1858 starb, ein Jahr vor Humboldt. Diese Frage kommt auch oft. Aber hier stellt sie ein Argentinier namens – Bonpland! Ein Nachkomme. Davon gibt es dort noch einige.

In Bern ist dann das Ziel erreicht. Das heißt: Von Bern aus muss man nun AvH noch einmal neu betrachten, zu einer neuen Reise aufbrechen. Was ist geschehen? Etwas Sensationelles. Im August, vor ein paar Wochen erst, trifft die große Kiste ein.

„Die Berner Ausgabe Sämtlicher Schriften“, herausgegeben von einem Team um Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich. Zehn Bände im Schuber, 6848 Seiten, elf Kilo leicht, muss man sagen, denn die Bedeutung dieser epochalen Edition ist kaum aufzuwiegen.

Traum und Alptraum jedes Biografen

Hier sind an die 1000 Artikel und Essays versammelt – zu Humboldts Lebzeiten in 15 Sprachen, 1240 internationalen Zeitungen und Journalen auf fünf Kontinenten erschienen. Und jetzt zum ersten Mal in ein System gebracht und nachgedruckt.

Traum und Alptraum jedes Biografen! Welch ein Materialschatz, dazu elegant und schön und fabelhaft kommentiert. Das wichtigste Ereignis im Humboldt-Jahr, da ja das Humboldt Forum so schnell noch nicht eröffnet.

Ich merke, dass ich mit diesen Superlativen meine Verwirrung überspiele. Muss ich von vorn anfangen mit meinem Alexander?

Man wird in den Bänden überall fündig

Es ist in dieser „Magic Humboldt Box“ nicht alles neu und grundstürzend, aber in dieser Zusammenfassung im Wechsel erdrückend und erhebend.

Man kann die Bände an jeder beliebigen Stelle aufschlagen und wird fündig. Band 5, Seite 366: Eine Tabelle der „Meeres- und Luftwärme vom Callao de Lima nach Guayaquil“. Band 3, Seite 432: „Über die Höhe von Bergen in Hindostan“.

Das ist eine Ausnahme in Humboldts Arbeiten, denn im Himalaya war er nie. Die Engländer verwehrten ihm die Einreise, weil sie fürchteten, er würde ihre schrecklichen kolonialen Praktiken offenlegen, so wie er es in seinen Schriften über die spanischen Kolonien der Welt gezeigt hat.

Oder Band 2, Seite 59. Humboldt berauscht sich am Sternenhimmel der Karibik, am hellen Schein der Venus und an den „atmosphärischen Ebben und Fluten“. Man kann ganze Tage mit diesen Büchern verbringen, im Steinbruch für seine berühmten „Kosmos“-Vorträge und die „Kosmos“-Bände.

Reisen, forschen, kommunizieren, schreiben, die Welt als globales Geschehen am Ort durchdringen, immer in Bewegung sein, den Informationsfluss beschleunigen: die Humboldt-Formel. Wissen besitzt die Eigenschaft, dass es wandert und Sogwirkung entfaltet, und Daten erzeugen Ströme. Darin liegt Humboldts faszinierende Heutigkeit.

Humboldt und der Panamakanal

Im Übrigen wird weiter geforscht an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, in Bogotá, Quito oder Mexiko. Es gibt die fabelhafte Webseite „Humboldt im Netz“, die ich häufig aufsuche. Doch der haptische Charme der „Berner Ausgabe“ schmeichelt Augen und Händen.

Bei einem Gespräch in der Staatlichen Ballettschule Berlin fragt ein Schüler, der aus dieser Weltgegend kommt, nach Humboldt und dem Panamakanal. Ja, AvH hat sich tatsächlich schon mit der Möglichkeit eines Landdurchstichs dort für die Seefahrt beschäftigt.

Die Bundeskanzlerin hat ihre ganz eigene Interpretation von Humboldt

Mehr noch als solche visionären Ideen interessieren die Schüler Humboldts Reisen, seine Internationalität, seine im Grunde schon globale Vernetzung. So sehen sie ihn. Als Vorbild, Mutmacher, Türöffner, Klimaforscher, er bietet ihnen ein fluides Bild, das zur Identifikation einlädt.

In einem Gespräch mit der Bundeskanzlerin, das sich auf der Baustelle des Humboldt Forums ergibt, geht es um die Bifurkation, die berühmte Flussgabelung über die sich die Systeme des Amazonas und Orinoco in beide Richtungen verbinden.

Blick ins Humboldt Forum. Das Berliner Schloss feiert seinen Namensgeber mit einer Ausstellung.
Blick ins Humboldt Forum. Das Berliner Schloss feiert seinen Namensgeber mit einer Ausstellung.
© Wolfgang Kumm/dpa

Angela Merkel, die Naturwissenschaftlerin, versteht den Begriff Bifurkation politisch: Wie fließend sind die Übergänge, wann kann ein gesellschaftliches System umkippen etwa ins Radikale? Das ist leider aktuell.

Von Humboldt lernen heißt begreifen, dass man immer nur Zwischenstationen erreicht und der noch zurückzulegende Wege viel länger ist als die bereits zurückgelegten Strecken.

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