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Skulpturenfund: Was ist "Entartete Kunst"?

Bei Ausgrabungen vor dem Berliner Roten Rathaus wurden elf Skulpturen entdeckt, die 1937 für die NS-Schau "Entartete Kunst" beschlagnahmt worden waren.

Die spektakuläre Entdeckung der elf Skulpturen im Schutt des durch Bomben zerstörten Hauses Königstraße 50 werfen zwar kein völlig neues Licht auf die Nazi-Aktion „Entartete Kunst“, aber sie entfachen nochmals das öffentliche Interesse an den verheerenden Folgen der NS-Kulturpolitik. Bis heute klaffen enorme Lücken in deutschen Museen, weil das NS-Regime 1937 rund 16 000 Kunstwerke beschlagnahmen ließ, die nicht den offiziellen ästhetischen Vorstellungen entsprachen. Zum größten Teil waren dies Grafiken; die Konfiszierung von 290 Skulpturen erscheint dagegen vergleichsweise gering, doch nicht weniger dramatisch.

Die Ausstellung der nun geborgenen Berliner Skulpturen wirft zugleich die Frage auf, woran sich die vermeintliche Entartung bemisst, warum sie auf dem Index der Kunstrichter landeten. Das von Edwin Scharff stammende Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes (1921), das nun wiederhergestellt im Griechischen Hof des Neuen Museums steht, erscheint aus heutiger Sicht als elegantes Art-déco-Porträt. Anstößlichkeiten sind für den Klassische Moderne gewohnten Blick nicht zu erkennen. Doch auch die Zensoren schienen sich nicht einig: Das aufgetauchte Exemplar des Bildnisses stammt aus der Staatsgemäldesammlung München, während ein weiterer Guss in der Mannheimer Kunsthalle damals unangetastet blieb. Auch bei der „Stehenden Gewandfigur“ (1925) von Gustav Heinrich Wolff, die sich bis zur Beschlagnahmung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe befand, ist nicht nachzuvollziehen, was den Zensoren missfiel. Die statuarische Frauengestalt mit dem zur Seite gewandten Kopf zeigt zwar Anklänge der Neuen Sachlichkeit, wirkt aber kaum überzogen.

Eine theoretische Grundlage für die Vorstellung, was „Entartung“ sei, lieferte der jüdische Philosoph Max Nordau 1892/93 mit seiner gleichnamigen Schrift, der darin die unbürgerliche, unmoralische Lebensart der Künstler als Ursache nannte. Für ihn fiel bereits der Impressionismus unter das Verdikt. Konkrete Vorgaben für die Kunst im „Dritten Reich“ aber machten der Kunstschriftsteller Wolfgang Willrich und der Zeichenlehrer Walter Hansen, die im Auftrag von Joseph Goebbels mögliche Werke für eine Gegenausstellung zur Leistungsschau nationalsozialistisch genehmer Kunst zusammenstellen sollten.

Auf ihre Liste kam alles, was vom Kanon des Fotografischen abwich, alles Übertriebene, Deformierte, wie es sich für sie im Kubismus, Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus, Fauvismus offenbarte. Die 1937 im Münchner Hofgarten gezeigte Ausstellung „Entartete Kunst“, in der auch drei Werke der jetzt aufgetauchten Skulpturen zu sehen waren, fand allerdings beim Publikum weitaus mehr Interesse als die parallele „Große Deutsche Kunstausstellung“ im Haus der Deutschen Kunst. Auch hier war die Trennlinie nicht immer scharf: Von Rudolf Belling befand sich ein Werk in der „Großen Deutschen Kunstausstellung“; gleichzeitig prangte eine Skulptur von ihm auf dem Plakat für die sogenannte Schandausstellung. Prompt wurde sein Beitrag aus dem Haus der Deutschen Kunst wieder entfernt.

Für die meisten Werke der Ausstellung „Entartete Kunst“ verliert sich nach der Tournee durch zahlreiche deutsche Städte, darunter Berlin, die Spur. Dies gilt auch für die im Zuge der Aktion „Entartete Kunst“ konfiszierten Objekte, die über vier ausgewählte Kunsthändler noch devisenbringend ins Ausland verkauft werden sollten. Jedes verkaufte Werk konnte als gerettet gelten, denn ansonsten drohte ihm Zerstörung.

Eine eminent wichtige Funktion kommt hier der Forschungsstelle der Freien Universität Berlin zu, die auf dem Markt auftauchende Objekte auf ihre Herkunft hin untersucht. Für die Museen ist der Handel die einzige Chance, um einstige Werke ihrer Sammlung zurückzubekommen. Die aktuelle Präsentation der Sammlung in der Neuen Nationalgalerie zeigt durch eine „Schatten-Galerie“ auf eindrucksvolle Weise, welche Lücken hier die Aktion „Entartete Kunst“ geschlagen hat.

Die bisherige Suche nach verschollener Kunst konzentrierte sich auf die Depots in der Köpenicker Straße, in Niederschönhausen und das Propagandaministerium selbst in der Mohrenstraße sowie die Lager der vier Kunsthändler. Durch die Entdeckung der elf Skulpturen im Haus Königstraße 50 taucht unvermutet eine weitere Möglichkeit auf, sollte tatsächlich Erhard Oewerdieck, der hier als Notar und Wirtschaftstreuhänder sein Büro unterhielt, die Werke deponiert haben. Durch ihn kommen plötzlich Treuhänder ins Spiel, die ausreisenden jüdischen Emigranten möglicherweise Kunst verkaufen sollten. Den Forschern eröffnet sich hier ein neues Feld.

Die Suche im Erdreich wie auf überraschende Weise in Berlin wird allerdings nicht dazu gehören. Die Entdeckung der elf Skulpturen war ein glücklicher Zufallsfund, mit dem kaum gerechnet werden konnte bei Ausgrabungen für das mittelalterliche Rathaus der Stadt. So wird man auch weiterhin immer nur dann in die Tiefe stoßen, wenn wie hier eine U-Bahn-Station gebaut wird oder ein anderes größeres Projekt geplant ist. Allerdings gibt es durchaus Hoffnung, dass in den Trümmern des Hauses Königstraße 50 Weiteres zum Vorschein kommt.

Nicola Kuhn

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