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Kinderbuchautor in Afrika: Was Geschichten lustig macht

Äthiopien? Da wollte er nie hin. Auch Inspirationen für seine Kinderbücher versprach sich Andreas Steinhöfel von der Reise nicht – und wurde dann zwischen Lehmhütten doch überrascht.

Als Deutschland gerade streitet, ob rassistische Ausdrücke wie „Negerkönig“ oder „Negerlein“ in alten deutschen Kinderbüchern zu streichen sind, fährt ein deutscher Kinderbuchautor nach Afrika. Nach Schwarzafrika, Äthiopien. Was er dort zu erfahren hofft, ist ihm in diesem Moment selbst nicht ganz klar. Er will über die Reise bloggen.

Sein Flugzeug landet frühmorgens in der Hauptstadt Addis Abeba, in der am schnellsten wachsenden Stadt Afrikas, vor 120 Jahren gab es hier nur ein paar Hütten. Andreas Steinhöfel, der Kinderbuchautor, durchquert müde die Ankunftshalle des Bole International Airport, die modern und voller Europäer ist. Noch merkt er kaum, dass er in Afrika ist. Vor der Tür bieten ein paar Taxifahrer auf Pappkartons stumm ihre Dienste an, da merkt er es schon ein bisschen stärker. Die Sonne ist gerade aufgegangen, die Luft kühl, Steinhöfel hat seine Jacke an und fröstelt. Addis Abeba liegt auf über 2000 Metern, erst mittags wird es heiß.

Wenig später spuckt ein gelbes Taxi mit kaputten Türen den Kinderbuchautor an einer großen lauten Straße aus, einen großen weißen Mann mit Halbglatze, grauem Haar in Blue-Jeans, grauem T-Shirt und schwarzen Turnschuhen. Er steht vor einem Gasthaus der Kinderhilfsorganisation SOS. Sie hat Steinhöfel nach Äthiopien eingeladen und die Reise organisiert, er wird Kinderdörfer besuchen und Hilfsprojekte. Auch die Gastgeber wollen, dass er über seine Reise bloggt.

Es ist das erste Mal, dass er in Afrika ist, und überhaupt das erste Mal seit Jahren, dass er eine große Reise unternimmt. Wenn er nicht auf Lesereisen ist und durch deutsche Schulen zieht, verbringt er die meiste Zeit in seinem Haus am Waldrand nahe einer mittelhessischen Kleinstadt. Als er die Einladung zu dieser Reise erhielt, war Andreas Steinhöfels Antwort: „Vielen Dank für Ihre freundliche Anfrage! Ich fahre sehr gern überall in Afrika hin, bloß auf gar keinen Fall nach Äthiopien.“

Bei Äthiopien dachte er an Kinder mit aufgeblähten Bäuchen, an unerträgliche Armut.

Steinhöfel will das Wort "Neger" aus alten Kinderbüchern nicht tilgen

Nun ist Andreas Steinhöfel doch in Äthiopien. Nach dem ersten Frühstück – es gibt scharf gewürztes Rührei, Toast, Zitronenmarmelade und viel starken Kaffee – erklärt er erst einmal, dass er in Afrika nicht auf der Suche nach Ideen für künftige Bücher sei, dass er sich auch nicht inspirieren lassen wolle, dass ihn „Ethno-Geschichten“ nicht interessierten. Und überhaupt: Man sei in Deutschland abgestempelt, wenn man sich auf Ethno einlasse, seine Geschichten also in fremden Kulturen spielen lässt. Aber geht das? Kann ein deutscher Kinderbuchautor nach Afrika reisen, in die Fremde, ohne sich inspirieren zu lassen? Ohne um eine wichtige Erfahrung bereichert zurückzukehren?

Abgestempelt werden, das kann Steinhöfel jedenfalls nicht mehr passieren. Der 51-Jährige gilt als einer der besten Kinderbuchautoren überhaupt („Dirk und ich“, „Rico, Oskar und die Tieferschatten“), und zwar bei Kindern, Eltern, Kritikern und Verlegern, er wird in eine Reihe mit Erich Kästner gestellt und hat so gut wie alle Preise bekommen, die in Deutschland für Kinderbuchautoren vergeben werden, unter anderem den Erich-Kästner-Preis für Literatur und zwei Mal den deutschen Jugendliteraturpreis. Sein Buch „Die Mitte der Welt“ schaffte es als erstes deutsches Kinderbuch auf die Spiegel-Bestsellerliste. Gerade wird wieder eine seiner Geschichten verfilmt, und zwar für den internationalen Markt. Die meisten seiner Bücher sind übersetzt, in 31 Sprachen.

Nach dem ersten afrikanischen Frühstück sagt Steinhöfel auch, dass man das Wort „Neger“ in alten deutschen Kinderbüchern stehen lassen könne. Astrid Lindgren, Otfried Preußler oder Michael Ende hätten den Ausdruck „Neger“ schließlich nicht diskriminierend gemeint. Kinder würden beim Lesen über das Wort stolpern, weil sie es nicht mehr kennen. Und dann könnte man ihnen erklären, wofür das Wort stehe, dass es Schwarze ausgrenzt und dass man es deshalb nicht mehr benutzt.

Mit Zensur – das Wort fiel in der Debatte über die rassistischen Wörter in Kinderbüchern häufig – kennt Steinhöfel sich übrigens aus. In einem seiner Bücher arbeitet die Mutter des Protagonisten in einem Nachtclub, bevor sie abends losgeht, prüft sie im Spiegel, ob ihre Brüste noch gut sitzen. In der arabischen Welt und auch in den USA hat die Mutter einen anderen Beruf als im Original. Gut findet Steinhöfel das nicht, aber er gibt zu: „Die Bücher funktionieren auch so.“

Und wenn er ehrlich ist: Er verändert Geschichten ja selbst gern, passt sie an, an sein eigenes Wertesystem.

Zwei Tage und eine Nacht nach der Ankunft in Äthiopien – Andreas Steinhöfel hat in Addis Abeba noch mehr starken äthiopischen Kaffee getrunken, sich ein paar Mal unwohl gefühlt, als ihn Äthiopier umringten und ihm etwas verkaufen wollten, und er ist drei Stunden lang in einer kleinen Propellermaschine in Richtung Südwesten geflogen in die Kleinstadt Gode, nahe der somalischen Grenze, wo es keine asphaltierten Straßen gibt und die meisten Menschen in runden Lehmhütten leben. Dort also sitzt er schließlich auf einem Stuhl im Wüstenstaub und verändert die Geschichte von Hänsel und Gretel.

Die Nacht ist finster wie im Märchen, der Himmel sternenklar. Nur die nackte Glühbirne an der Tür eines Bungalows erleuchtet die Szenerie. Irgendwo schreit ein Esel, quietschen Fledermäuse, gurren Tauben. Der Kinderbuchautor erzählt das Grimm’sche Märchen von den beiden Geschwistern einem Dutzend schwarzer Kinder, die um ihn herum sitzen. Die Mädchen tragen eng anliegende Kopftücher in Pink, Gelb und Hellgrün, die ihre Haare komplett verbergen, dazu weite, bodenlange Kleider in Türkis, Dunkelblau, Orange – die traditionelle somalische Kleidung. Die Jungs Sporthosen und bunte T-Shirts.

In Steinhöfels Version ist Gretel ein aufgewecktes Mädchen und nicht nur Hänsels stumme Begleiterin, auch sie streut Kieselsteine zur Orientierung, als der Vater die Geschwister in den Wald führt, um sie auszusetzen. Und sie ist es, nicht Hänsel, die den Einfall hat, wie die Hexe am besten aus dem Weg zu schaffen ist.

Als Hänsel und Gretel die alte Hexe überlisten und – „Bums“ – in den Ofen schubsen, sagen die Kinder erst leise „Ohh“ und lachen dann hinter vorgehaltener Hand, als dürften sie sich nicht richtig über das schlimme Ende der bösen Frau freuen.

Auch Steinhöfel lacht. Er freut sich, dass es ihm gelungen ist, die Kinder zu amüsieren. Er fühlt sich aufgenommen. Das hätte auch ganz anders kommen können. „Eine Geschichte, eine Geschichte“, hatten die Kinder gerufen und ihn angesehen. „Was soll ich denn den äthiopischen Kindern erzählen?“, fragte er. Wie fern muss ihnen die schauerliche Erzählung von dem Geschwisterpaar vorkommen. Oder andererseits vielleicht viel zu vertraut?

Steinhöfel wollte die Geschichte also gar nicht erzählen. Er hatte sich in Gode vor den erdfarbenen Bungalow gesetzt, um zuzuhören, einer Frau namens Jojis Miyir. Sie ist Geschichtenerzählerin und Mutter von elf Waisenkindern. Ihre Geschichten sind eine Attraktion im Kinderdorf, wo es nur zwei Fernseher für 140 Kinder gibt, der Dorfdirektor die Fernbedienung in seiner Obhut hat und nur selten herausrückt. Wo Lampen ein so schwaches Licht werfen, dass es in der Dunkelheit kaum zum Lesen reicht. Wenn Jojis Miyir sich vor ihren Bungalow setzt und beginnt, dann scharen sich die Kinder um sie. Ihre Geschichten hat sie von ihrer Mutter gehört und die wiederum von ihrer Mutter. Miyirs Erzählungen enden immer mit dem Satz „Die Botschaft ist …“

Was die Geschichtenerzähler aus Afrika und Europa gemeinsam haben

Am folgenden Abend sind Andreas Steinhöfel und Jojis Miyir für sich. Sie sitzen erneut vor ihrem Haus, diesmal im Schneidersitz auf einem bunten Plastikteppich. Nach fünf Minuten tun seine Knie weh. Jojis Miyir sagt: „Ich glaube, ich kann Kindern gut Geschichten erzählen, weil ich ihnen sehr nah bin.“

Andreas Steinhöfel nickt heftig. „Früher dachte ich, jeder kann Kinderbücher schreiben. Aber heute weiß ich, dass ich es besonders gut kann, weil ich immer noch wie ein Kind denke, fühle und hoffe.“

Kindergeschichten, sagt sie dann, sollen Kindern „Mut fürs Leben geben und sie glücklich machen. Deshalb die Botschaften.“

Andreas Steinhöfel nickt wieder, lächelt. „In Deutschland handeln Märchen auch von den Veränderungen im Leben, von dem schwierigen Weg vom Kind zum Erwachsenen.“ Er sucht nach Gemeinsamkeiten. „Und ja Botschaften! Ich will meinen Lesern sagen, dass sie miteinander kommunizieren sollen.“

So geht das eine ganze Weile. In beinahe allem sind sich die beiden Geschichtenerzähler einig, bis Steinhöfel zum Humor kommt, ein Wort, für das der Übersetzer zunächst die Entsprechung nicht weiß.

„Für mich ist das sehr wichtig“, sagt Andreas Steinhöfel. „Man muss über sich selbst lachen können, sich nicht so ernst nehmen. Meine Protagonisten sind alle selbstironisch.“

Jojis Miyir sagt lange nichts, bevor sie antwortet. „Humor ist ein Teil des Lebens. Aber er spielt eine viel größere Rolle, wenn das Leben gut läuft. Hier in Gode sind die Menschen vor allem mit dem Lösen von Problemen beschäftigt. Wie gehe ich mit den Schäden der letzten Dürre um? Wie bekomme ich genug zu essen? Unser Leben ist wohl deshalb ernster.“

Andreas Steinhöfel erwidert, dass sich mit Humor doch gerade Schwierigkeiten besser ertragen ließen.

Jojis Miyir sieht ihn an, lächelt nicht. Auch der Kinderbuchautor lächelt jetzt nicht mehr.

Am letzten Tag in der Wüste fährt Steinhöfel ins Zentrum von Gode, wo sich ein paar staubige Straßen treffen und Männer auf niedrigen Hockern sitzen und süßen schwarzen Tee mit Milch trinken. Plötzlich packt ein junger Mann den Kinderbuchautor am Arm und zerrt ihn in ein Haus, das nur aus vier Stangen und einem Wellblechdach besteht. Etwa 20 Jungs, die gerade noch einem Musiker an einem Keyboard zugesehen haben, und ein paar Männer, die zu der lauten Musik des Keyboards tanzen, schauen jetzt Steinhöfel an. Der junge Mann platziert den Kinderbuchautor ganz vorne. Er ist wieder die Attraktion. Immer mehr junge Männer kommen staunend hinzu. Nach einer halben Stunde verfolgen sie genau, wie der weiße große Mann das Haus verlässt.

Der findet es seltsam, interessant zu sein, nur weil er fremd ist.

Als der deutsche Kinderbuchautor nach drei Tagen wieder in Addis Abeba ist, fährt er mit dem Taxi. Er atmet flach wegen der schlechten Luft, blickt stumm aus dem Fenster. Er hat in den vergangenen Tagen oft von seinem Haus am Waldrand erzählt und von seiner Familie. Nun kämpft ein Polizist in hellblauer Uniform an einer Straßenkreuzung mit einer Trillerpfeife gegen das Hupen der Autos an, umgeben von schwarzen Abgaswolken, unzähligen Autos und Menschen. Und Steinhöfel denkt jetzt nicht mehr, dass ihn die Reise nicht inspirieren wird.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Veronica Frenzel

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