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Autobahnraser. Die Verkehrsdisziplin auf Deutschlands Straßen sinkt.
© dpa

Hier bin ich Schwein, hier darf ich's sein: Warum Deutschlands Autofahrer ihr Hirn ausschalten

Fußgänger und Radfahrer bezahlen die Disziplinlosigkeit von Autofahrern mit ihrem Leben. Statt den Jagdtrieb von Rasern zu bekämpfen sollen Temposünder entlastet werden. Die Neuregelung der Flensburger Sünderdatei ist irrational.

Am Sonntag, früh um zwei Uhr, startete ein Berliner seinen Mercedes und fuhr einen anderen Mann, mit dem er sich zuvor in der Kneipe gestritten haben soll, über den Haufen. Da war das Auto für einen Augenblick das, was es sonst höchstens nebenbei ist: eine Waffe.

Aber stimmt das „sonst“ überhaupt noch? Die Verkehrsdisziplin auf deutschen Straßen sinkt. Jahr für Jahr wächst die Flensburger Verkehrssünderdatei, und wenn Bundesverkehrsminister Ramsauer das Punktesystem jetzt neu regeln will, dann, so die einhellige Kritik, begünstigt das die Zuschnellfahrer, die die meisten und schlimmsten Unfälle verursachen. Fahrer, die in der Regel wissentlich regelwidrig handeln. Ramsauers Idee wäre damit eine irrationale Antwort auf ein Verkehrswesen, das statt weniger Druck mehr Druck bräuchte, wenn es unfallfreier werden soll.

Die Verkehrsdisziplin sinkt, das heißt, die Bereitschaft, Vorschriften zu befolgen. Man parkt, wo man will, fährt so schnell es gerade passt und hält an der roten Ampel nur, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt. Fußgänger gucken auch bei Grün längst noch dreimal nach links, rechts, links, bevor sie gehen, Radfahrer trauen sich kaum noch auf die Straße. Sie tun recht daran: Für Berlin gilt, dass der Anteil der Fußgänger und Radfahrer bei den Unfalltoten „unverhältnismäßig hoch“ ist, so nannte es mit Blick auf die Verkehrsstatistik von 2010 die Prüforganisation Dekra.

Mitten in der Stadt, mitten in der Zivilisation ist ein öffentlicher Ort, die Straße, zu einer Art gesetzloser Zone geworden, in der jeder sein Interesse, das eigene zügige Vorwärtskommen, durchsetzen will.

Fotos: Berlins gefährlichste Radstrecken

Das Überschreiten von Höchstgeschwindigkeiten führt seit Jahrzehnten die Liste der Verkehrsverstöße an. Warum das so ist, ist nicht ergründet. Es gibt keine belastbare Motivforschung zum Gemütszustand der Temposünder. Doch scheinen sich zwei Gruppen voneinander zu unterscheiden. Es gibt diejenigen, die gespeist aus dem Slogan von der freien Fahrt für den freien Bürger die Verkehrssünde als eine akzeptable Art der Staatsabwehr betrachten. Lasst mich in Ruhe mit euren Regeln, schreibt mir nicht vor, wie ich mich in einer Situation verhalten soll, die ich viel besser selbst beurteilen kann, weil ich mittendrin stecke. Dazu passt die Erkenntnis, dass Temposünden abnehmen, wenn die Fahrer älter werden. Wenn sich auch im sonstigen Sozialverhalten die Revoluzzerpose abgenutzt hat und die Mitmachbereitschaft wächst.

Und es gibt die Gruppe der Jüngeren, die ihre vielleicht noch postpubertär motivierte Rivalität mit der ganzen Welt gerne auf der Straße austragen. Die das Rasen, Drängeln, Schneiden als persönlichen Sieg über den Anderen, die Loser, feiern, als Ausweis ihrer Überlegenheit.

Gemeinsam ist ihnen die Selbstüberschätzung (Ich habe alles im Griff!) und die augenblicksbezogene Gefahrenvergessenheit: gestresst oder aufgeputscht ins Auto steigen, diesen Stress durch regelwidriges Verhalten noch erhöhen und das dann Abreagieren nennen. Rote Ampeln überfahren, um Zeit zu gewinnen, die man an der nächsten Ampel schon wieder verliert. Dieses Verhalten wird nur deshalb nicht zur täglichen Katastrophe, weil es noch die anderen Autofahrer gibt. Die Defensiven, die mitdenken, vorlassen, bremsen, blinken, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Fotos: Berliner Radkultur

Es gibt den Spruch: Hinter dem Steuer werde ich zum Tier. Da bricht Jagdtrieb aus, die Impulskontrolle geht flöten, das Rationale. Das heißt auch: Ich bin keiner mehr von euch. Die Karosserie entrückt den Menschen dem direkten Zugriff der anderen. Niemand hört ihn, niemand wird von ihm gehört. Manche bohren in der Nase, weil sie vergessen, dass die anderen hineinschauen können in die kleine mobile Privatwelt. Es gibt keine andere Situation außerhalb der eigenen vier Wände, in der man so unerreichbar für ein Feedback der anderen ist. Wer sich an der Supermarktkasse vordrängelt, wird zur Rede gestellt. Wer dasselbe im fließenden Verkehr macht, bleibt meist unbehelligt. Derart abgeschottet, sind die anderen da draußen nur noch Hindernisse, die es zu neutralisieren gilt. Studien belegen, dass Cabriofahrer gesitteter fahren.

Mit den Automobilen kamen die Unfälle

Gleich mit den ersten Automobilen kamen auch die Unfälle, die Fahrer waren nicht imstande, ihre Gefährte so zu lenken, dass kein Schaden entstand. Die ersten Tempolimits sprach der Kaiser aus, später verfügten die Nazis Höchstgeschwindigkeiten, die im Westen nach dem Krieg zunächst kassiert wurden. Im Osten nicht. Dann wurde im Westen die Autoindustrie groß und größer und mit ihr die Autonation BRD. Der dicke BMW, der schnelle Mercedes, das ist auch Stolz auf deutsche Ingenieurskunst, auf Wirtschaftsleistung – und eine Zeitlang auch das Überlegenheitsgefühl gegenüber den Trabis und dem sozialistischen Experiment. So umweht das Auto in Deutschland etwas Triumphierendes. Guck mal, ich bin schneller als du. Vielleicht liegt darin bis heute die Nachgiebigkeit, die soziale Toleranz gegenüber Verkehrssündern begründet. Oder würde jemand, der beim Schokoriegelklauen erwischt wird, laut klagen, wenn er den Bußbescheid bekommt, und den Kioskbesitzer einen Wegelagerer nennen?

Fahrradkultur auf Dänisch

„Ein substanzieller Sicherheitsnutzen könnte erreicht werden, wenn Straßennutzer die geltenden Verkehrsregeln beachteten.“ Der Satz steht in einem Artikel der „Zeitschrift für Verkehrssicherheit“ vom April 2010. Ein Satz mit zwei Konjunktiven. Könnte, aber kann nicht. Das macht die enthaltene Unwahrscheinlichkeit deutlich. 2011 wurden in Deutschland 3900 Menschen bei Autounfällen getötet – das ist erstmals seit langem eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr. In den USA kommen jährlich etwa 12 000 Menschen durch Schusswaffen ums Leben. Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland bei einem Autounfall zu sterben, ist höher als in den USA durch eine Kugel. Trotzdem haben viele in Deutschland weniger Verständnis für die Waffengesetzgebung der USA als für den heimischen Raser.

Andere Länder, andere Sitten. In Italien wird bei Alkoholfahrten über 1,5 Promille das Fahrzeug konfisziert und versteigert. In Frankreich kann als Strafe für eine Alkoholfahrt ab 0,5 Promille der Führerschein für bis zu sechs Jahre entzogen werden. Danach muss er neu gemacht werden. In den USA wurde ein Mann, der betrunken zwei Studentinnen tot gefahren hat, zu lebenslanger Haft verurteilt. In Japan gibt es für Trunkenheit am Steuer bis zu fünf Jahre Lagerarbeit. Strafen, die keinen Zweifel daran lassen, dass solches Verhalten nicht toleriert wird. Die Strafen in Deutschland sind sanfter. Es gibt eine große Angst vor der Wut der Autofahrer, die immerhin knapp 43 Millionen Pkw angemeldet haben.

Man wolle die Autofahrer nicht gängeln, sie sollen sich nicht überwacht fühlen, sagt der Verkehrspsychologe Wolfgang Schubert. Bußgelder und Flensburgpunkte sollen erziehen, nicht strafen. Deshalb werden Blitzgeräte nicht flächendeckend aufgestellt, so dass wenigstens den Verkehrssündern, die keine Millionäre sind, die Lust am Rasen vergeht.

Blitzgeräte verhindern keine Unfälle, heißt es auch in den Foren zum Thema. Untersuchungen bestätigen das: Lasergeräte erfassen vor allem Berufstätige, weil wochentags zu Arbeitszeiten geblitzt wird. Die jüngeren Raser sind aber meist abends, nachts und an Wochenenden unterwegs. Weil die aber die kleinere Gruppe bilden, ist beim Tagsüberblitzen mehr zu verdienen. Die Kommunen, die die Blitzgeräte aufstellen, sind deshalb angreifbar. Auch im Doppelhaushalt 2012/2013 des Landes Berlin finden sich wieder 100 Millionen Euro Blitzerbußgelder. Fest eingeplant. Als Gegenleistung muss in Deutschland niemand Angst um seinen Führerschein haben. Man bekommt ihn immer nur auf Zeit entzogen, und noch der notorischste Verkehrsrowdy kann sich über medizinisch-psychologische Begutachtungsrunden zurück auf die Straße bugsieren.

Man kennt das Prinzip aus der Schule: Besondere Angebote werden denen gemacht, die negativ auffallen, statt dass man die Erfolgreichen belohnt. Aber anders als in der Schule, wo der schlechte Schüler oft nichts für seine Defizite kann und zu recht gefördert wird, ist der Autofahrer für seine Fehler selbst verantwortlich. Zudem gefährdet er andere, auch wenn er meint, alles im Griff zu haben. Ein Irrtum, der keine Opfer wert ist. Und der Konsequenzen haben muss, die so schnell nicht vergessen werden.

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