Roma: Vor den Toren
„Europa erfindet die Zigeuner“: Klaus-Michael Bogdal erzählt die Geschichte der Romvölker zwischen romantischer Überhöhung und handfester Diskriminierung.
Die Urszene liest sich so: Im 15. Jahrhundert erscheinen Fremde vor den Mauern vieler europäischer Städte. Ihre Herkunft ist unsicher, ihr Ziel unbekannt, ihre Identität ungreifbar – in Spanien nennt man sie gitanos, in Frankreich bohèmiens, in Deutschland Zigeuner. Diese Szene ist der Beginn einer langen, bitteren Geschichte. Es ist die Geschichte derer, die um Einlass bitten – aber zugleich auch derer, die den Einlass verwehren. Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal hat sich dieser verstörenden Angelegenheit angenommen. Sein Buch ist eines über Zigeuner und ihre Ausgrenzung aus Europa. Aber es ist auch eines über Europa als Idee und politische Praxis. Ganz beiläufig erzählt es eine Geschichte Europas von seinen Rändern her und eine umgekehrte Geschichte der Moderne: Sie geht nicht von Errungenschaften aus, sondern von dem, was im Laufe des Modernisierungsprozesses ausgeschlossen und getilgt wurde.
Der Titel „Europa erfindet die Zigeuner“ führt sofort ins Zentrum: Zigeuner gibt es nicht. Was es gibt, ist eine wirkungsmächtige kulturelle Projektion. Sie wird Zigeuner genannt und überblendet die Wirklichkeit der Romvölker. Zigeuner, so will es das Bild, das seit etwa 600 Jahren im Umlauf ist, sind ortlose Nomaden, geschichtslose, wild-sinnliche Naturmenschen. Diese Zuschreibungen machen sie unvereinbar mit dem Projekt der europäischen Moderne, das auf Rationalisierung und Normierung, Sozialdisziplin und Kontrolle setzt. Zigeuner, so diktiert die europäische Definitionsanmaßung, sind das Bedrohlich-Fremde. Und das bleiben sie auch. Ihr Bild nämlich ist nützlich, um sich von ihm abzugrenzen und die Höhe der eigenen Zivilisiertheit zu vermessen.
Die Idee, an der Bogdals Buch sehr unauffällig ausgerichtet ist, lässt sich so zusammenfassen: Die Kluft zwischen erfundenen Zigeunern und realen Romvölkern erscheint noch heute unüberbrückbar, weil das ungenaue Wissen über sie massenhaft Verbreitung gefunden hat. Das „gesicherte Wissen“, das Bogdal zur Verfügung stellen möchte, basiert auf ungeheuren Textmengen, mit denen der Germanist sich fast 20 Jahre lang beschäftigt hat. Die gesamte europäische Literatur, die Zigeuner-Bilder zeichnet – oder sie programmatisch verschweigt – ist hier gelesen und gedeutet worden, so scheint es. Kanonisches wie Puschkin oder Goethe steht neben Apokryphem wie dem Dänen Steen Steensen Blicher. Zu den zahllosen Texten über Zigeuner kommen die wenigen hinzu, die von Roma selbst verfasst worden sind, wie die von Matéo Maximoff.
Bogdals Studie ist einerseits chronologisch aufgebaut, vom ausgehenden Mittelalter bis heute, beschäftigt sich andererseits aber mit sehr unterschiedlichen europäischen Kulturräumen: von Spanien bis Russland, von Schweden bis Rumänien.
Zunächst sehen wir Zigeuner in frühneuzeitlichen Chroniken als nicht integrierbare, infame Fremde, von denen das Gerücht umgeht, sie kämen aus Ägypten. Als gottlose Kindsräuber oder „Jauner und Bettler“ geistern sie durch die barocken Texte von Cervantes bis Grimmelshausen. Mit der Anthropologie und Ethnografie der Aufklärung entdeckt man zwar ihre indische Herkunft und ihre Sprache, das Romanes, stellt sie aber Eskimos, Hottentotten und anderen vermeintlich vorzivilisatorischen Gesellschaften gleich.
Der genauere Blick führt dann nicht zur Assimilation, sondern zum Herausstellen ihrer Andersartigkeit. Er initiiert die „Enteuropäisierung“. Die Romantik dürfte am folgenreichsten für die Projektionen geblieben sein. Victor Hugo präsentiert Esmeralda im „Glöckner von Notre-Dame“ als Ausgeburt der Pariser Unterwelt, Prosper Merimée zeichnet „Carmen“ als unzähmbare, gefährlich-schöne Zigeunerin. Die Folklorisierung in der „Zigeunerromantik“ mit verklärten Bildern eines vorindustriellen Lebens, mit ungarischem Csardas-Geiger und dem Loblied der antibürgerlichen Existenz, begräbt die Realität der Romvölker dann endgültig. Doch je größer die symbolische Hochachtung für die Zigeuner-Kultur, desto desaströser ist die soziale Wirklichkeit der Roma.
Als um die Wende zum 20. Jahrhundert aus ethnografischen Darstellungen Rassenspekulationen werden, die Zigeunern biologisch bedingte Asozialität und angeborene Kriminalität zuschreiben, beginnt das finsterste Kapitel ihrer Geschichte. Die europäische Furcht, die eigene „Reinheit“ könnte vom Fremden affiziert werden, ist übermächtig. Die „biopolitischen Maßnahmen“ des Nationalsozialismus reichen von Heiratsverboten über Zwangssterilisierung bis zur Massenvernichtung in den Vernichtungslagern. In Berlin-Marzahn befand sich damals ein Sammelort für die Zigeuner.
Natürlich liegt es nahe, die Konstruktion von Bildern der Juden, ihrer Ausgrenzung und Vernichtung, mit der Geschichte der Zigeuner zu vergleichen. Bogdal zieht diesen Vergleich und beschreibt plausibel die Differenzen. Im Unterschied zur jüdischen Kultur ist die der Romvölker weitgehend schriftlos und beinhaltet kaum Selbstbestimmungen. Die Vernichtungsfantasien entzünden sich bei den Roma nicht an unterstellten Weltherrschaftsplänen, sondern an unterstellter Nichtigkeit. Und während die Bundesrepublik einen sensiblen Umgang mit dem Antisemitismus erlernt hat, gibt es keine Sensibilität für den Antiziganismus, stattdessen geht die Diskriminierung einfach weiter. Das Narrativ, an dem munter entlang erzählt wird, liefern die Bilder der Zigeunerromantik. Eine „Tatort“-Folge aus dem Jahr 1989 („Armer Nanosh“), zu der Martin Walser das Buch mitverfasste, zeige Roma sogar als privilegiert, während die Deutschen zu Opfern der eigenen Geschichte würden, schreibt Bogdal. „Im Lichte späterer Äußerungen und Werke Martin Walsers“, kommentiert er, „drängt sich die Vermutung auf, dass die Zigeunerfiguren des Kriminalromans nur Platzhalter für die Juden sind, gegen die sich in den Erinnerungsdebatten um 2000 hauptsächlich der Vorwurf richtet, ihren Opferstatus zu missbrauchen.“ 1989 allerdings fand keine Debatte statt.
Bogdals andere Kulturgeschichte eröffnet einen Ideenraum. Notwendig sei eine nachholende Modernisierung der RomaKulturen, die sich gleichermaßen an der inneren Ordnung der Romvölker wie der äußeren Ordnung der europäischen Gesellschaften orientiere. Man könnte hinzufügen, dass gerade die Literatur ein privilegiertes Medium wäre, (noch) nicht gelebte Optionen durchzuspielen. Bogdals Buch bietet viele Ansätze. Denn es ist nicht nur politisch alarmierend, sondern auch intellektuell elektrisierend.
Klaus-Michael
Bogdal: Europa
erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und
Verachtung.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2011.
592 Seiten, 24,90 €.
Steffen Richter
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