Osterspaziergang mit Christoph Waltz: Vor dem Tor. Spaziergänger aller Art
Ostern, der Neuanfang. Zeit zum Flanieren und Plaudern mit dem Schauspieler Christoph Waltz.
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche an diesem späten Ostern schon lange. Und ehrlich gesagt, fand dieser Osterspaziergang schon zwei Wochen vor dem Fest stand. Aus produktionstechnischen Gründen und auch, weil Christoph Waltz eben dann doch nicht so einfach verfügbar ist. Er ist halt ein Star, ein Weltstar, mit vielfältigen Terminen, pendelnd zwischen Hollywood, wo er zum Weltstar wurde, Paris, wo er gerade mit Roman Polanski gedreht hat und Berlin, wo er lebt. Nicht voller Überzeugung, aber dazu später.
Und so einem Weltstar darf man dann auch mal verzeihen, dass er zwölf Uhr mit zwei Uhr verwechselt. Kurz und gut, es gab keinerlei Probleme, die reizende Agentin von Christoph Waltz regelte das Missverständnis souverän, und weil Waltz in Charlottenburg wohnt wie auch der an diesem Tag vorgesehene Wagner, kam das Treffen doch zustande.
Ein Osterspaziergang. Mit einem Schauspieler, was läge näher? Reden über dies und das, flanieren, plaudern, genießen. Den berühmtesten Osterspaziergang hat Johann Wolfgang Goethe angeregt, als er den Doktor Faust zusammen mit dessen Famulus und Stichwortgeber Wagner vor die Tore Leipzigs in den Frühling und unters promenierende Volk schickte.
„Auf der Schauspielschule haben wir Goethes Spaziergang schon einmal gemacht, beim Max-Reinhardt-Seminar. Wir mussten den Raum durchschreiten, durften alles machen, nur nicht den Boden berühren und dabei deklamieren, sehr lustig“, wird Waltz später erzählen. Und Wagner wird innerlich zweierlei notieren: Er lässt sich darauf ein. Und das ist doch schon mal ein Thema, die Schauspielerei.
Dieser Osterspaziergang 2011 fand an einem Montag statt, am letzten Montag vor der erneuten Kältewelle. Die Sonne scheint, es ist wie Ostern, wie man sich Ostern vorstellt und wünscht, Frühlingsstrahlen wärmen die Luft, der Himmel strahlt blau, Menschen, viele Menschen sitzen in den Cafés auf dem Stuttgarter Platz, vom Eise befreit sind Herzen und Seelen, Waltz trägt Sonnenbrille. Wagner notiert innerlich: Fragen, ob die Brille mehr Schutz vor dem Licht oder vor dem Erkanntwerden ist. Waltz ist, abgesehen von dem zweistündigen Missverständnis nahezu preußisch pünktlich.
„Da bin ich ja froh, dass ich mich vertan habe.“ Auch das wird er später sagen, einen preußischen Eindruck zu machen, das ist ihm wohl ein Gräuel.
Jetzt will er erst noch mal einen Kaffee.
„Sind Sie überhaupt ein Flaneur, Herr Waltz?“
„Ich gehe zu Fuß, ich habe kein eigenes Auto, ich laufe von A nach B, aber Spaziergänger, als das würde ich mich nicht bezeichnen.“
Waltz erzählt, dass er schon auch mal in die Berge gegangen sei, aber mehr der Kinder zuliebe, irgendwie haben sie ihm, dem Österreicher, die Berge madig gemacht in der Schule mit zwei Pflichtausflügen im Jahr und den obligatorischen Skifahrten. Anders als im Original führt dieser Spaziergang nicht vor die Tore der Stadt und durch Felder und Auen, dieser startet am Stuttgarter Platz, wandelt durch die Friedbergstraße mit dem Lietzensee als erstem Ziel.
„Frühling, Ostern, das ist der Neuanfang. Sie haben schon oft neu angefangen?“
„Ja, der erste große Neuanfang war die Schauspielschule“, es folgt die Schilderung des akrobatischen Osterspaziergangs über Tische und Schränke, „na, irgendwo muss man ja anfangen, aber ich glaube, dass in diesen Schauspielschulen vielen, mir zumindest, ein bisschen der Spaß abgewöhnt wird. Da wird so eine Professionalität vorgegeben, die es eigentlich doch gar nicht haben darf, irgendwo muss man sich ja austoben können. Aber an den Schauspielschulen wird Leistung gefordert, Leistungsforderung ist das, was am wenigsten leistungsfördernd ist.“
„Wie müsste denn Schauspielerausbildung aussehen?“
„Ich weiß nicht mal, ob die so instutionalisiert gehört. Ich stell mir vor, dass es eher bauhausmäßig gehen sollte statt hochschulmäßig. Also Meister, die einen Teil ihres Berufslebens zur Verfügung stellen, um Lehrlinge an die Sache heranzuführen.“
Die Tarnung der Sonnenbrille funktioniert nicht. Die entgegenkommenden Passanten stutzen, schauen ein zweites Mal hin, sichtbar erkennen sie Christoph Waltz, aber keiner spricht ihn an.
„Und dann müsste die Ausbildung viel praktischer sein, so ist alles auf Kunst getrimmt. Die Kunst ist das Resultat, warum muss man sich am Anfang vom Resultat erschlagen lassen.“
„Gehen Sie ins Theater?“
„Eher selten. Schauen Sie, wir beide könnten uns auch unterhalten, indem wir die Grammatik und die Syntax völlig durcheinanderschmeißen. Früher oder später, mit ungeheurem Aufwand würden wir möglicherweise drauf kommen, was der andere meint, aber einen Gesprächsfluss wird es garantiert nicht geben. So geht es mir mit den meisten Aufführungen, ich komme da in die Bredouille, weil ich nur mit ungeheurem Aufwand verstehe, was da passiert.“
Am Kuno-Fischer-Platz am südlichen Ufer des Sees führt der Weg an einem prachtvollen gelben Haus vorbei.
„Das ist es, was ich mir bei nahezu jedem Gang durch Berlin denke: Mein Gott, was hätte aus Berlin werden können, wenn das Tausendjährige Reich nicht dazwischengekommen wäre? Das hat zwar gottlob nur zwölf Jahre gedauert, aber es hat dieses Land und besonders diese Stadt so furchtbar zerstört. Dieses schöne Haus, pah, ich bin in Wien aufgewachsen, da sehen alle Häuser so aus. Aber es verströmt eine Lebensart, ist Komposition, ist angelegt an diesem künstlichen See für eben diese Lebensart.“
Waltz ist Wiener, hat lange in London gelebt, ist jetzt mehr Kosmopolit als ansässig.
„Heimat ist Wien, Heimat ist ein Gefühl und in Berlin habe ich ein Fremdheitsgefühl. Berlin ist, ich drück es mal mit einer Freundin aus, die kürzlich einen Tag in Wien war und als sie zurückkam über Berlin sagte, dass es hier schon ein wenig ungastlich zugehe. Ich meine das nicht nur auf die Häuser bezogen. Architektur ist ja mehr als nur Häuser bauen, sondern hat auch großen Einfluss auf die soziale Entwicklung. Und da wir über Neuanfänge reden, den haben sie nach all der Zerstörung vergeigt. Und später noch einmal. Mein Gott, was hatten wir eine Stimmung in der Stadt, als der Reichstag verhüllt war, großartig, da hatte man wirklich das Gefühl, jetzt fängt etwas von vorne an, neu, einzigartig, mit Möglichkeiten, die niemand sonst hatte. Stattdessen prägte die Loveparade die Stimmung der Stadt, eine Million Menschen, die alle gleich aussehen, aber behaupten, ihre Individualität zu feiern.“
Der Stichwortgeber ist ein wenig vergrätzt, weil so wenig Gutes an Berlin übrig bleibt und zeigt vom Mittelstreifen der Schloßstraße auf die Fassade des Charlottenburger Schlosses. „Versöhnt das nicht? Gut, das ist jetzt der sehr touristische Blick. Aber sind die Cafés am Stuttgarter Platz nicht ein wenig Paris?“
„Doch, doch, es gibt sehr schöne Plätze in Berlin, hier, den Gendarmenmarkt, die wunderbare Museumsinsel, ich meine Ungastlichkeit gar nicht so negativ.“
Die Wege werden voller, mehr Menschen spazieren vorbei, überholen, drehen sich um. Oder, um Wagner zu zitieren: Welch ein Gefühl mußt du, o großer Mann, Bei der Verehrung dieser Menge haben! Zitat Ende.
„Das ist in Berlin recht angenehm und in Wien, der Mentalität entsprechend, überschwänglicher. Was den Umgang mit Prominenten angeht, ist Berlin sehr unanstrengend, entspannter, so nach dem Motto: Glaub bloß nicht, wer du bist!“
Fast hätte es Wagner vergessen, der Mann ist Hollywood, sein neuer Film „Wasser für die Elefanten“ an der Seite von Robert Pattison und Reese Witherspoon läuft in der kommenden Woche an. Der Mann ist der Oscar-Preisträger, wenn das kein Neuanfang ist. „Was war denn nun der wichtigste Neuanfang?“
„Nicht Hollywood, sondern Quentin Tarantino. Ich hatte vorher immer das Gefühl auf ein profundes Missverständnis zu treffen, zum ersten Mal traf ich auf tiefes Verständnis, ich habe mich komplett verstanden gefühlt. Allein Erfolg zu haben, ist ja noch kein Verständnis, ein erfreuliches Nebenprodukt, aber eben ein Produkt. Verständnis zu ernten ist mehr. Das hat eine Dynamik, die Kraft freisetzt, okay, das was ich zur Verfügung habe, ist offensichtlich das, was gefragt ist. Das ist sehr beglückend.“
„Sind Sie jetzt ein besserer Schauspieler geworden?“
„Besser? Was ist besser? Es war ein Neuanfang nach einer Zeit, in der ich schon die Frage stellen musste, ob es noch Sinn macht, die Schauspielerei so zu betreiben, obwohl es sich auf diese Art in 30 Jahren ja nicht wirklich bewährt hat. Hat es einen anderen Zweck erfüllt, als den Lebensunterhalt zu verdienen?“
Wagner fühlt sich an dieser Stelle bemüßigt ein Stichwort zu geben und zitiert den Faust: Habe nun, Ach! Philosoph, Juristerei und Medizin Und leider auch Theologie studiert, mit heißem Bemühen, Da steh ich nun , ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor und so weiter. War es so?
„Das ist aber eigentlich mein Text auf diesem Osterspaziergang.“
Der Famulus korrigiert, „nein, ist ja nicht aus dieser Szene.“
„Gut, sagen wir so: Da hat sich auf jeden Fall für mich etwas vom Eise befreit, und zwar nicht durch Schmelzung, sondern mit einem großen Knacks.“
„Und mit Ehrgeiz?“
„Ich habe das Wort Ehrgeiz nie begriffen. Mit wessen Ehre geize ich und warum und wo kommt der Geiz her und woher die Ehre. Und wenn ich es als Strebsamkeit verstehe, dann ist strebsam auch negativ besetzt, der Streber ist keine positive Figur. Ich möchte es so formulieren: Ich versuche mit einigem Aufwand Fortschritte zu erzielen.“
„Als Schauspieler, als Mensch. Lässt sich das trennen?“
„Ich behaupte, nein. Das kann keiner, sein Ich abschalten, wenn er in eine Rolle schlüpft. Oberflächlich gesagt, steckt im SS-Standartenführer Hans Landa in Inglourious Basterds schon mal meine Visage drin. Und für die bin ja ich verantwortlich und nicht Hans Landa.“
Im Schlosspark haben die Gärtner schon die Blumen gesetzt. Waltz bleibt stehen, genießt, Aber die Sonne duldet kein Weißes, Überall regt sich Bildung und Streben, Alles will sie mit Farbe beleben. Man schreitet weiter.
„Es ist schön hier.“
„Was rührt Sie an?“
„Ich lass mich anrühren von gescheiterten Versuchen, wenn ein Mensch in einer Geschichte, und nicht zuletzt dazu sind Geschichten da, wenn ein Mensch seine ganze Existenz an etwas hängt, woran er glaubt und das scheitert dann. Nein, es berührt mich sogar, wenn es gelingt.“
Der Famulus hat eine Frage: „Ist das Erzeugen von Anrührung, Berührung nicht das Wesen aller Kunst?“
„Ist das so? Ist das unabdingbar? Hat Picasso stets gewusst, welcher Pinselstrich rührt? Aber er hat es gefühlt, doch ja. Aber was mich wirklich berührt ist Musik. Klassische Musik, auch nicht alles, je nach Phase. Es gibt Musik, die mich derart berührt, dass ich nachgerade erschrocken bin.“
„Erschrocken?“
„Na, weil eine Harmonieveränderung in einer Klaviersonate, eine einzige, ein Akkordwechsel mich so stark berührt, eine einzige Veränderung. Erschrecken vielleicht nicht, aber es fährt mir in die Glieder.“
„Das pure Glück.“
„Und umgekehrt wird es spürbar, wenn ich eine Enttäuschung erfahre, wenn ich mit einer großen Erwartung antrete und dieses Erlebnis aus irgendeinem Grund nicht eintritt. Das muss nicht am Konzert liegen, nicht am Orchester, nicht am Dirigent, das kann auch an meiner Verfassung liegen. Ich habe in der Philharmonie ein Konzert mit Pierre Boulez gehört. So etwas habe ich vorher und nachher noch nie gehört. Und ich bekomme selbst jetzt, da ich daran denke und hier die Sonne im Park scheint, eine Gänsehaut.“
Hinter dem Ostflügel des Schlosses hat sich eine italienische Reisegruppe versammelt. Die Reisenden schauen und staunen, lassen sich die Architektur erklären, sie schauen und staunen, als Waltz vorbeigeht. Da werden sie was zu erzählen haben, daheim in Italien.
„Schön, so ein Spaziergang?“
„Und wenn man dabei noch ein wenig klugscheißern kann, wunderbar. Und keinen Widerspruch erntet.“
„Wagner hat auch nicht widersprochen.“
Ein Mann fährt auf einem Rad vorbei, illegal auf dem Parkweg, aber was soll’s. Der Mann dreht um, überholt, hält bei zwei jungen Mädchen, spricht mit ihnen, fährt weiter. Waltz spricht über Roman Polanski, mit dem er gerade gedreht hat. Über dessen Perfektion, über dessen Gabe, sich nichts vorschreiben zu lassen, sich seinen Maßstab nicht verbieten zu lassen.
„Das machen nur die ganz Großen. Um in Berlin zu bleiben, Barenboim lässt sich seinen Maßstab auch nicht aus der Hand nehmen. Vielleicht macht er möglicherweise ein wenig viel Umtrieb, aber der hat mit elf Jahren bei Furtwängler gespielt. Mit elf Jahren? Der Furtwängler hat selber über ihn gesagt und sich gefragt, woher der Kleine das hat ...“
Die jungen Mädchen stehen plötzlich vor Waltz und fragen nach einem Autogramm. Wagner ist erstaunt, dass so junge Mädchen, vielleicht maximal zwölf Jahre, schon Quentin Tarantino sehen dürfen.
„Und ihr seid zu Besuch? Victoria und Luise? Schreibt man eigentlich die preußische Louise mit ou oder mit u? So weit ist es also schon mit Preußen.“
„Wir heißen nicht Victoria und Luise, sondern Pauline und Esther.“ Waltz schreibt. Also doch noch, denkt Wagner. Doch gehen wir! Ergraut ist schon die Welt, die Luft gekühlt, der Nebel fällt!