"Die Tutoren" von Bora Ćosić: Von Listenland nach Phrasistan
Familienchronik als Sprachexperiment: "Die Tutoren“ ist das Hauptwerk des serbischen Schriftstellers Bora Ćosić. Vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung erscheint es nun auf Deutsch.
Ein Mann gesellt sich zu einer jungen Frau ins Erste-Klasse-Abteil. Freundlich stellt er sich als Hinko Hinković vor, Apothekergehilfe aus Novi Sad, geschäftlich unterwegs nach Zagreb. Doch er belässt es nicht bei dieser höflichen Bemerkung, sondern gerät erst ins Plaudern und dann in schier endloses Schwadronieren. Bahnhöfe, Telefone, Grammofone, der Eiffelturm, die Oper, Museen, die Schwester, die Engländer, die Polizei – er redet drauflos, um die Frau gegenüber zu beeindrucken.
Als er ihren Namen erfährt, ruft er aus: „Laura Uskoković-Bichner! Bin ich auf Ihren werten, wenn auch recht langen Namen nicht in einer der letztjährigen Ausgaben der achtbaren Zeitschrift Ženski Svet gestoßen, der Welt der Frau, wie man ein solches Blatt in Ihrer Muttersprache wohl nennen würde, welche von unserem Mitbürger A. Varađanin ebenso gründlich wie aufopfernd redigiert und fast ohne Entlohnung herausgegeben wird?“
In der Tat, es ist dieselbe Laura, und Hinko Hinković erinnert sich sogar noch an Details aus dem Artikel, die er in seinen Redeschwall integriert. Fast 77 Buchseiten umfasst dieser im Jahr 1902 angesiedelte Monolog, der ziemlich genau in der Mitte von Bora Ćosić knapp 800-seitigem Roman „Die Tutoren“ steht.
Es ist eines der schillernsten und eindrücklichsten Kapitel dieses Mammutwerks, das in den siebziger Jahren entstand und nun erstmals auf Deutsch erscheint. Es galt lange als unübersetzbar. Nur eine Übertragung ins Russische existierte. Dass Brigitte Döbert in zweijähriger, akribischer Schwerstarbeit nun eine stimmige deutsche Version erstellt hat, ist eine herausragende Leistung und macht dieses große Buch der europäischen Literatur endlich einem breiteren Publikum zugänglich.
Wie „Die Tutoren“ in den Ruf der Unübersetzbarkeit gerieten, wird in diesem ungemein vielstimmigen Text, der sowohl die Perspektiven wie auch die Stilmittel mehrmals wechselt, schnell deutlich. Anspielungen, Aufzählungen, Phrasen, Slang, Werbe- und Fachsprache – all das vermischt sich, stets beseelt von feinem Humor. Es entsteht ein polyphoner Sound, dessen Inhalt häufig sekundär ist, weil Klang und Spiel im Vordergrund stehen. Man merkt dem Werk an, dass es ohne Blick auf ein Publikum entstanden ist.
Er war beim Regime in Ungnade gefallen und konnte nicht publizieren
Bora Ćosić, der 1932 in Zagreb zur Welt kam und größtenteils in Belgrad aufwuchs und zu den bedeutendsten Schriftstellern (Ex-)Jugoslawiens zählt, hat „Die Tutoren“ in einer Zeit des unfreiwilligen Schweigens geschrieben. Nachdem er mit dem wunderbaren Roman „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ seinen ersten literarischen Erfolg hatte, fiel er 1972 beim sozialistischen Regime plötzlich in Ungnade.
Die Verfilmung des Buchs kam nicht in die jugoslawischen Kinos, die Theateradaption wurde von den Spielplänen gestrichen, Ćosić konnte nicht mehr publizieren. Er empfand dies jedoch nicht als Strafe, sondern als Geschenk, wie er im Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt. Weil seine damalige Frau genug verdiente, hatte er Zeit, sich in die Geschichte seiner eigenen Familie zu versenken. So legte er den Roman als eine sich über fünf Generationen erstreckende Chronik an. Eine Handlung im üblichen Sinn gibt es nicht, die Geschichte wird nicht erzählt, man muss sie sich aus diversen Monologen, Bildbeschreibungen, Gedichten, einer Theaterstück-Parodie, Notizbucheinträgen, Brieffragmenten und weiteren Textformen erschließen.
Großmutter Laura ist das Zentralgestirn der zweiten Buchhälfte
Als Erster kommt Theodor zu Wort, der Ururgroßvater des Autors. Er ist ein serbisch-orthodoxer Priester und Landwirt in dem fiktiven slawonischen Ort Grunt, einer Gegend, die damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte. Das Jahr seines Auftretens ist absichtsvoll gewählt: 1828 brachte der Philologe Vuk Karadžić das erste serbische Wörterbuch heraus. Auch Theodor, der den Sprachreformer ein paar Mal erwähnt, legt seinen Text als Lexikon an – allerdings nicht alphabetisch sortiert, sondern als wildes Stichwörter-Sammelsurium.
Von naturbezogenen Einträgen („Erdbeeren: lächerliches, aber süßes Obst“) kommt er zu seiner Mutter („nie zufrieden, flucht und mault, immer tut ihr was weh“) und zu abstrakten Begriffen wie Ordnung oder Zweifel bis hin zu Christus und Gott. In seinen munteren Assoziationsketten lernt man ihn als ernsthaften Mann kennen, der bemüht ist, seiner Rolle in Gemeinde und Familie gerecht zu werden, aber um die Beschränktheit seiner Autorität weiß.
Dass Theodors im Wörterbuch aufscheinender Kinderwunsch sich erfüllt, zeigt sich im folgenden Kapitel, das nach seiner Schwiegertochter benannt ist und 1871 spielt. Katharina hat Theodors ältesten Sohn geheiratet, der ebenfalls Pope geworden ist. Dieser Teil enthält neben sprunghaften Holperreim-Beschreibungen des Grunter Alltags eine Aufzählung von Prophezeiungen, die sowohl die Familie als auch das Land betreffen. Einmal bringt Ćosić, der sein Land während der Balkankriege verließ und seit 20 Jahren überwiegend in Berlin wohnt, das historische Verhältnis von Serben und Kroaten in nur einem Satz unter, wobei ihm in der zweiten Hälfte eine treffende Voraussage gelingt: „Serben und Kroaten werden zunächst Brüder sein, dann Unbrüder, dann wieder Brüder und Kumpel, dann gehen sie einander wieder mit dem Messer an die Gurgel, und am Ende tun sie so, als hätten sie sich noch nie gesehen.“
Ćosić benutzt die Notizbücher der Großmutter
Das Thema Vielvölkerstaat scheint immer wieder auf, beginnend damit, dass die Uskokovićs eine serbische Familie im kroatischen Slawonien sind. Mit Laura, der Schwiegertochter von Katharina, heiratet zudem eine Deutsche in die Familie ein. Sie tritt zum orthodoxen Glauben über und lernt perfekt Serbisch. So kann sie den plappernden Hinko Hinković im Zug verstehen. Auf die Begegnung wird noch einige Male Bezug genommen. Laura nennt ihn einmal „Flegel“, doch es bleibt Raum für Spekulationen, ob da nicht vielleicht mehr gewesen ist als ein Wortschwall zwischen beiden. Das wird erst gegen Ende aufgeklärt.
Laura ist das Zentralgestirn der zweiten Buchhälfte, sie strahlt bis in die folgenden Kapitel „Lazar 1938“ (über ihren trunksüchtiger Schwiegersohn) und „Der Autor 1977“ hinein. Ihr Einfluss auf diesen Autor (Bora Ćosić), der im Abschlusskapitel bei einem Gespräch in der Buchhandlung selbstironisch über das Schreiben räsoniert, ist immens. So hat sie ihm nicht nur das Lesen und Schreiben beigebracht, sondern kommt auch in seinen Büchern immer wieder vor. Mit dem 1982 geschriebenen und 1998 auf Deutsch erschienenen „Bel Tempo“ hat Ćosić ihr sogar ein Denkmal gesetzt. Der absatzlose Monolog einer alten Dame, die vor dem Fernseher sitzt, ist maßgeblich von ihr inspiriert. Auch für „Die Tutoren“ war sie eine entscheidende Quelle. Ćosić hat Teile ihrer Notizbücher übernommen, die wie die Blaupause des Romans wirken.
So berichtet die kluge und witzige Laura ungeordnet, aber kurzweilig von ihrem Leben, streut Haushaltsratschläge und Sprüche ein. Sie ist auch eine große Listenschreiberin: die Ausgaben der Tochter, die berühmtesten Ärzte der Welt, die Schritte bis zur Kirche, die Zahl der geschriebenen Briefe und der gelesenen Bücher. Sie zählt, zählt auf und erzählt. Ihr Enkel hat diesen Dreisprung meisterhaft nachvollzogen.
Bora Ćosić: Die Tutoren. Roman. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co, Frankfurt a. M. 2015., 787 S., 39,95 €.
Nadine Lange