Architektur in Russland: Von Italien lernen
Das Berliner Museum für Architekturzeichnung beleuchtet die russisch-sowjetische Baukunst von 1900 bis in die fünfziger Jahre. Berühmt sind die Entwürfe der Konstruktivisten, die Szene aber dominierten die Vertreter des stalinistischen Zuckerbäckerstils.
Russische Architektur ist mehr als Zwiebeltürme und Roter Platz. Die russische Literatur, die russische Musik zählen unstrittig zur Weltkultur; doch was in dem riesigen Land gebaut wurde, wird entweder als pittoresk wahrgenommen oder als Außenposten „westlicher“ Architektur wie in St. Petersburg. „Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hat die russische Architektur“, schreibt – wie zur Bestätigung – Wladimir Sedow, der führende Architekturhistoriker seines Landes, „das Weltniveau der herrschenden Strömungen und Stile immer bloß erreicht, nie übertroffen.“ Der Satz ist zu lesen im Katalogbuch der Ausstellung „Architektur im Kulturkampf“, die das Museum für Architekturzeichnung der Tchoban Foundation in seinem kleinen, feinen Neubau am Pfefferberg zeigt.
Rund 80 Zeichnungen fächern die Entwicklung der russischen Architektur von 1900 bis in die fünfziger Jahre auf. Mag das Wort „Kulturkampf“ zunächst etwas zu stark klingen, so zeigt der Rundgang tatsächlich ein solches beständiges Ringen. Und man weiß, dass dieses Ringen eine höchst reale Grundlage in der gewaltsamen Geschichte der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg hatte.
Freilich spiegeln sich die politischen Ereignisse nicht unmittelbar in der Architektur. Die Konstruktivisten hatten hochfliegende Pläne, konnten sie aber nur selten verwirklichen. Kirill Afanassjew entwarf 1929 eine Arbeitersiedlung als endlos lange Wohnscheibe – und wechselte 1932 ins Lager der Regimetreuen. Es ist das Paradox der Architektur unter dem nunmehr allgegenwärtigen Stalinismus, dass sie, anders als Literatur oder bildende Kunst, nicht einfach verarmte, sondern frühere Anlagen vervollkommnete, insbesondere den stets latenten Neoklassizismus. Es kam zu den eigentümlichsten Kreuzungen aus Neoklassizismus, Historismus und auch dem nach 1932 verfemten Konstruktivismus. Alexej Schtschussew, von dem mehrere Zeichnungen für das temporäre Lenin-Mausoleum von 1924 zu sehen sind, wies mit seinem Stilgemisch voraus auf die Architektur der dreißiger Jahre, als Säulen in Mode kamen, aber auch deren „rohe“ Abstraktionen in Gestalt von ungeschmückten Rundpfeilern.
Dann kamen die Wettbewerbe zum „Palast der Sowjets“. Sedow nennt das wichtigste Gebäude der Epoche „das Gespenst“. Boris Iofan, der sich schließlich als Hauptentwerfer durchsetzte und den immer größeren, immer weniger realisierbaren Turmbau in ebenso grandiosen Zeichnungen vorstellte, führte zeitlebens eine innere Auseinandersetzung mit seinen italienischen Vorbildern. Die in Berlin gezeigten Zeichnungen von Iofan, Iwan Scholtowski oder Iwan Fomin spiegeln auf je individuelle Weise diesen Italien-Komplex, der die russische Architekturgeschichte seit den Tagen der italienischen Kreml-Baumeister des 16. Jahrhunderts durchzieht. „Die neue Architektur der UdSSR und Stalins erforderte eine ungewöhnliche, ja gewaltige Bildung“, erläutert Sedow. „Die Architekten jener Zeit lernten ununterbrochen, schöpften ihre Kenntnisse aus Büchern, aus Studienreisen nach Italien und Griechenland, aus Vorlesungen ...“ Auf Moskaus Prachtstraßen finden sich die Ergebnisse solcher Studien wieder, als eigenständiger Stil des Stalinismus.
Wie dieser nach 1945 schematisch wurde, tatsächlich zuckerbäckerisch, ist in der Ausstellung gleichfalls zu sehen. Es entstand der Kranz der Moskauer Hochhäuser, aber es gab keine Entwicklung mehr. Die Konstruktivisten waren längst ausgeschaltet. Im Westen verbindet man allein mit ihnen die Vorstellung von innovativer Architektur. Die Ausstellung zeigt, dass die russisch-sowjetische Baukunst weit darüber hinaus höchst eigenständig ist. Bernhard Schulz
Museum für Architekturzeichnung, Christinenstraße 18a, bis 21. 3. 2014. Mo–Fr 14–19, Sa und So 13–17 Uhr. Katalog 248 S., 40 €.