Musikfest-Bilanz: Von Hörern und Hörnern
Das „Musikfest Berlin“ endet mit Ivan Fischer und dem Konzerthausorchester. Es versammelt noch einmal alle Themenschwerpunkte des diesjährigen Festivals. Eine Bilanz
Ein letztes Mal noch leuchtet „Cherry Brandy“ am Montagabend vom Podium der Philharmonie. Besonders prachtvoll sind die Künstlersträuße beim „Musikfest Berlin 2014“ ausgefallen, ganze Arme voll Rosen tragen die Interpreten nach Hause, langstielig, mit üppigen gelben Blütenkronen, an deren Rand rote Blätter emporlodern wie Feuerzungen.
Eine attraktive Metapher sind diese edlen Zuchtblumen für den Sinn und Zweck des Programms von Festivalmacher Winrich Hopp : Repräsentativ soll es sein, was da mit Bundesgeld unter dem Dach der Berliner Festspiele zum Saisonauftakt veranstaltet wird, getragen von Künstlern mit nobler Herkunft. Schönheit allerdings, so erlaubt sich Hopp seit seinem Amtsantritt 2006 hinzuzufügen, ist nie ohne Risiko zu bekommen. Folglich haben seine Programme stets Stacheln.
Beim Finale mit dem Konzerthausorchester und Ivan Fischer ist noch einmal das ganze, fein gesponnene Gitternetz der inhaltlichen Bezüge nachvollziehbar, das auch in diesem Jahr über den einzelnen Ereignissen des Festivals lag. Um Johann Sebastian Bach beispielsweise ging es, der nach seinem Tod fast 100 Jahre lang vergessen war, bis die Romantiker ihn neu entdeckten und er für alle nachfolgenden Generationen zur festen Bezugsgröße wurde. Mannigfaltige Reminiszenzen und Reverenzen konnte man da heraushören, auch aus den zeitgenössischen Werken. Es gab wüste Deformationen, wie Arnold Schönbergs Bearbeitung von Präludium und Fuge BWV 552, aufgeblasen zum sinfonischen Monstrum. Oder Bach pur, wie bei Ivan Fischer, der am Montag die Kantate „Herr, geh nicht ins Gericht mit Deinem Knecht“ aufführt.
Zusammen mit dem Vocalconsort Berlin, das die solistischen Partien basisdemokratisch unter seinen Mitgliedern aufteilt, sitzt ein Dutzend Musiker ganz nah beim Maestro. Liebliche Oboe, festlicher Trompetenschall, äußerst filigrane Streicher: Hilfreich ist diese demutsvolle Interpretation, denn sie fördert die innere Sammlung der Zuhörer, den Fokus auf die tönend bewegte Form.
Ein Fest hat Winrich Hopp dem Horn bereitet, das 1840 durch die Erfindung der Ventilmechanik zum voll chromatischen Instrument wurde – und damit den modernen Orchesterapparat ermöglichte. Bis hin zum Alphorn wurden seit dem 2. September die klanglichen Möglichkeiten des mundgeblasenen Rohrs durchdekliniert. In György Ligetis „Hamburgischem Konzert“ wechselt die Solistin Maria-Luise Neunecker souverän zwischen Natur- und Ventilhorn, führt in diesem Werk der heiteren Dissonanz vor, was sie von Tuten und Blasen versteht.
Dass auch Musik aus unseren Tagen erklingt, wünscht sich Winrich Hopp von allen Orchestern. Keine Experimente für Spezialisten sind gemeint, sondern Werke der sinnlichen Moderne, die es verdient haben, erneut gehört zu werden. Dass der Saal dann manchmal schütter besetzt ist, wenn nicht gerade die Weltspitzen-Ensembles spielen, ist ein Risiko, das Hopp in Kauf nimmt. Vier solcher Abende gab es diesmal, im Durchschnitt aber lag die Auslastung bei 1500 Besuchern.
Ein Werk des Übergangs hat Ivan Fischer ausgewählt für das Philharmonie-Gastspiel des Konzerthausorchesters, das Umbaumaßnahmen am Gendarmenmarkt geschuldet ist, Gustav Mahlers 1. Sinfonie. Aber er zeigt den Komponisten nicht als sensiblen Seismografen, der das Donnergrollen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts so früh vernahm wie kaum ein anderer. Absichtsvoll naiv, ja geradezu naturburschenhaft lässt er die ersten beiden Sätze spielen, als großformatiges Tongemälde à la Richard Strauss. Blendend setzen seine Musiker das um, doch das Bedrohliche, das Gebrochene der Partitur bleibt unterbelichtet, weil auch im Trauermarsch die resignierende Rückschau dominiert, im Finale trotz des donnernden Beginns kein Gefühl der Apokalypse herrscht. Vielleicht mag, vielleicht kann Ivan, der Sanftmütige, einfach keine böse Musik dirigieren?