Jörg Widmann im Pierre Boulez Saal: Von den erogenen Zonen der Partitur
Wenn Komponisten Unerhörtes wagen: Der Multikünstler Jörg Widmann schwärmt in einem Vortrag im Pierre Boulez Saal über die außergewöhnlichen Momente in der Klassik. Er lässt sie einen nachempfinden.
Als Klarinettist wird er weltweit geschätzt, als Komponist ist er einer der erfolgreichsten seiner Generation. Wer aber hätte gedacht, dass Jörg Widmann darüber hinaus noch so ein grandioser Musikgeschichtenerzähler ist? Im rappelvollen Pierre Boulez Saal redet er am Montag zwei Stunden ohne Punkt und Komma – und das Publikum hängt bis zum Schluss an seinen Lippen.
„Schöne Stellen“ hat der 1973 in München geborene Multikünstler den Abend betitelt, in Anlehnung an Adornos berühmten Vortrag von 1965, in dem er die bürgerliche Klassikklientel bezichtigt, nur des wohligen Wiedererkennungseffektes wegen ins Konzert zu gehen. Jörg Widmann allerdings liegt es fern, sein Publikum zu beschimpfen, das ihn dank zusätzlicher Stuhlreihen im Oval des Saals extrem eng umringt. Ebenso wenig will er es mit trockenen Thesen traktieren.
Stattdessen schwärmt er lieber von seinen Lieblingsstellen. Die er jedoch nicht bei den süffigsten Melodien ausmacht oder den prachtvollsten Effekten, sondern in den außergewöhnlichen Momenten. Dort, wo die Komponisten sich aus den Konventionen lösen, wo sie Unerhörtes wagen, liegen für ihn „die erogenen Zonen der Partituren“.
Beethovens Akustik-Affront von 1800 wieder nachempfinden
Jörg Widmann redet leidenschaftlich und mitreißend, zudem vermag er alle Beispiele sofort ausdrucksstark auf dem Flügel zu untermauern, wobei er sämtliche Stücke auswendig parat hat. Dennoch ist es gar nicht so leicht, mit heutigen Ohren so zu hören wie zu Beethovens Zeiten: Dass seine 1. Sinfonie mit einem Dominantseptakkord beginnt statt mit der Tonika der offiziellen Tonart, war im Jahr 1800 ein echter Akustik-Affront, ein bewusster Regelverstoß. Um den auch im Jahr 2017 wieder nachempfinden zu können, braucht es schon einen so guten Fremdenführer durch vergangene Zeiten wie Jörg Widmann.
Wie er aus dem Stegreif alle Facetten der Tonart Es-Dur erläutert, wie er mühelos von Mozarts Spiel mit Moll-Eintrübungen in Dur-Sätzen zu Helmut Lachenmann wechselt, dann Schubert und Schönberg zu Brüdern im Geiste erklärt, en passant noch eine Lanze für den unterschätzten Carl Maria von Weber bricht, bevor er sich Robert Schumanns auskomponierten Fieberkurven zuwendet – das ist ebenso faszinierend wie erhellend. Hier gibt ein Komponist Einblicke in die Werkstatt seiner Kollegen, und ein Interpret verdeutlicht, wie intensiv die Analyseprozesse während der Probenarbeit sein können. Die Schönheit, lautet die Botschaft dieses nachhaltigen Abends, ist immer die Schönheit des Andersdenkenden.